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Eroberer

Eroberer

Titel: Eroberer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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hatten den kleinen Jungen hereingeholt, wie sie es immer zu tun pflegten, und ihm eine Amme besorgt. Aus einem nur für Eingeweihte verständlichen Scherz heraus nannten sie ihn Aethelred, nach dem damaligen König.
    Bald stellte sich heraus, weshalb das Baby ausgesetzt worden war. Es wuchs zu einem hübschen Jungen heran, der sehr bald laufen konnte, aber nicht sprechen
wollte. Er blieb stundenlang für sich allein und zeichnete Figuren in den Schmutz, aber sobald er zu den anderen Kindern in die Klosterschule gesteckt wurde, raufte und kratzte er. »Er war ein geschädigtes Kind«, sagte Aethelmaer, »in seinem Innern war etwas zerbrochen  – zerbrochen oder gar nicht erst geformt.«
    Niemand wusste, was man mit ihm anfangen sollte, bis ihm ein Bruder, der sah, wie er etwas in den Schmutz kratzte, aus einer Eingebung heraus ein Stück Kreide gab. Anfangs betrachtete man Aethelreds obsessives Zeichnen lediglich als eine Art Beschäftigungstherapie  – aber bald stellte sich heraus, dass seine Zeichnungen mehr als nur Kritzeleien waren.
    »Du meinst diese Entwürfe«, riet Sihtric. »Ja! Du siehst, wie genau sie sind – schau, es ist, als könnte man ins Innere der Maschinen blicken. Aber es gibt keine Erklärungen, keine Beschriftungen – nur Blöcke geheimnisvoller Symbole wie den hier, den bisher noch niemand entschlüsseln konnte.«
    Orm warf einen Blick auf einen solchen Block, der die wenig hilfreiche Überschrift »Incendium Dei« trug.
    BMQVK XESEF EBZKM BMHSM BGNSD DYEED OSMEM HPTVZ HESZS ZHVH
    Das sagte ihm gar nichts.
    Ein Bild zeigte jedoch einen Stern, der einen eiförmigen Kurs um einen anderen beschrieb. Dies war das Schaubild, das Aethelmaer sorgfältig analysiert hatte, um zu beweisen, dass der Komet, der bei Aethelreds
Geburt am Himmel gestanden hatte, im Jahr 1066 zurückkehren würde.
    »Und wer hat dem Jungen beigebracht, diese Entwürfe zu zeichnen?«, fragte Sihtric.
    »Niemand«, sagte Aethelmaer sehr leise, und seine Augen glänzten, denn dies war offenkundig das Mysterium, das sein ganzes Leben prägte. »Niemand . Solche Entwürfe hat er im Alter von vier Jahren zu zeichnen begonnen, und sie waren von Anfang an fast so gut ausgearbeitet wie diese. Nur seine Kinderhand und seine Unerfahrenheit mit dem Griffel haben ihm Grenzen gesetzt. Irgendwie ist ihm all das in den Kopf gegossen worden.«
    »Von wo? Und wie?«
    Aethelmaer hob die Schultern und zuckte vor Schmerz zusammen. »Woher soll ich das wissen? Vielleicht von Gott.«
    Godgifu flüsterte Sihtric zu: »Das klingt wie der Ursprung des Menologiums der Isolde.«
    »Ja. Dann haben diese Prophezeiung, falls es eine ist, und das Menologium vielleicht eine gemeinsame Quelle.«
    »Vergesst nicht, das war alles vor meiner Zeit«, sagte Aethelmaer. »Ich wurde in dem Jahr geboren, als Knut den Thron bestieg – lange nachdem der arme Aethelred zu seinem Schöpfer zurückgekehrt war. Aber als junger Diakon habe ich beim Studium eine gewisse Begabung gezeigt, und der Abt hat mir die Aufgabe übertragen, an den von Aethelred hinterlassenen Papieren zu arbeiten.«

    »Und was ist dir zugestoßen?«, fragte Orm unverblümt. »Bist du schon so zur Welt gekommen?«
    »O nein«, sagte Aethelmaer und wand sich, während der junge Mönch seine Beine bearbeitete. »In meiner Jugend war ich stark und in guter körperlicher Verfassung. Aber dann wurde die Beschäftigung mit Aethelreds Werken zu einer Obsession, und eines Tages bin ich zu weit gegangen …«
    Aethelmaer war zu der Überzeugung gelangt, dass er versuchen musste, einige von Aethelreds wundervollen Entwürfen zu bauen, wenn er sie vollständig verstehen wollte. Aber in den Zeichnungen war vieles abgebildet, was er weder kaufen noch herstellen konnte: sehr feine Zahnräder zum Beispiel, deren Zähne in ganz präzisen Abständen angeordnet waren. »Die Römer hätten so etwas vielleicht anfertigen können  – oder es werden die Menschen eines künftigen Reiches dazu imstande sein –, aber nicht die Mönche von Knuts England …« Er hatte sich jedoch an einer der einfacher aussehenden Gerätschaften versucht. Er zeigte Sihtric eine Zeichnung davon. Es war eine Art Anzug aus Holz, Stoff und Federn in Vogelform, den ein Mensch tragen konnte.
    »Ich glaube, ich weiß, wozu er gedacht war«, sagte Sihtric trocken. »Und ich glaube, ich weiß auch, was dir zugestoßen ist.«
    »Ich hoffte, wie Dädalus fliegen zu können!«, seufzte Aethelmaer. »Ich brachte die Flügel an meinen

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