Eroberer
Kalender – ein historischer Kalender. Sein Grundelement war das Große Jahr, der siebenundsiebzigjährige Zyklus der Wiederkehr des Kometen, der noch in diesem Monat an Englands Himmel erstrahlen sollte.
»Aber da ist kein Komet«, bemerkte Harold.
»Er wird kommen, Sire …«
Sihtric war es gelungen, das Menologium mit Hilfe des maurischen Gelehrten zu deuten. Dieser hatte Große Jahre in die Jahreszahlen der christlichen Zeitrechnung
umgewandelt, indem er die Daten des Menologiums mit historischen Werken wie dem von Beda abgeglichen und sich auf Studien über die Prophezeiung gestützt hatte, die Jahrhunderte zurückreichten, bis zu Cynewulf und Boniface, die beide längst tot waren.
»Wir haben einen Prolog, einen Epilog und neun Strophen«, sagte Sihtric. »Jede Strophe umspannt ein Großes Jahr, unterstrichen von einem Besuch des Kometen. Die erste kann auf das Jahr des Herrn vierhunderteinundfünfzig datiert werden, als unsere germanischen Vorfahren gegen den britischen König rebellierten, der sie nach England geholt hatte. Und jede weitere Strophe beschreibt spezifische Ereignisse, wenn auch in kryptischer Form.« So sagte die fünfte Strophe den Überfall der Nordmänner auf Lindisfarena voraus. Die sechste Strophe deutete Alfreds ersten großen Sieg über das dänische Große Heer an.
Einige Strophen des Menologiums schienen eingefügt worden zu sein, um den Zeitrahmen historisch zu verankern, und ihre Bedeutung wurde erst im Verlauf der Zeit klar. Sihtric zitierte die achte Strophe: »›Im Nabel der Welt / Massiver Fels / gegen Feuerfluten‹ …«
»Was bedeutet das?«
»Jeder hat von dem großen Brand in Rom im Jahr neunhundertdreiundneunzig gehört. In dieser Strophe ist der ›Nabel‹ Rom, mit dem ›Fels‹ ist Petrus gemeint, dem die Kathedrale des Vatikans geweiht ist. Und das in den Vers eingebettete Jahresdatum ist das Jahr
neunhundertdreiundneunzig , das Jahr des Brandes. Meine maurischen Kollegen haben die Berechnungen bestätigt. Diese Prophezeiung kann also sogar Katastrophen vorhersagen, die die ewige Stadt heimsuchen.«
Harold dachte stirnrunzelnd darüber nach.
Orm vermutete, dass Harold solch mystisches Geschwätz ebenso wenig leiden konnte wie er. Aber die offenkundige Macht der Prophezeiung beunruhigte ihn unwillkürlich.
»Sag mir Folgendes, Priester«, begann der König. »Wie kann es überhaupt so etwas wie Prophezeiungen geben? Ich habe einen Kalender; meine Priester lesen ihn mir jeden Tag vor. Er ist eine Litanei von Feiertagen und Gedenktagen – Gottes Plan der Welt, eingebettet in den Zyklus jedes Jahres. Wie können wir über diesen heiligen Zyklus hinausschauen? Welches Recht haben wir, es zu versuchen? Ich habe diese Angelegenheit mit Erzbischof Stigand erörtert. ›Die Zukunft ist verschlossen und dunkel. Nur der Herr allein kennt sie.‹ Das waren seine Worte. Ist es nicht ein Sakrileg, auch nur über solche Dinge hier zu sprechen?«
»Betrachte es einmal so, Herr. Wir streben nicht danach, die Geschichte zu beherrschen, sondern sie zu verbessern. Eine vollkommene Geschichte muss möglich sein, denn Gott muss sich eine Vorstellung davon gemacht haben. Unsere gefallene Welt ist unvollkommen, aber durch die Manipulation von Ereignissen können wir sie vielleicht besser machen. Indem wir
also den Warnungen des Menologiums folgen, gehorchen wir eindeutig Gottes Willen.«
Harold machte ein finsteres Gesicht. »Stigand würde dir widersprechen, glaube ich. Tut mir leid, dass ich gefragt habe; im Gegensatz zu meinem Vorgänger hatte ich nie viel für theologische Sophisterei übrig. Komm zur Sache. Was ist der Zweck dieser ganzen Prophezeierei?«
Sihtric richtete sich auf. »Ich glaube«, sagte er, »dass das Menologium ein Plan ist – ein Programm, das ›Schritt für Schritt den Weg zum Reich erhellt‹, genau wie es darin steht. Geht es in Erfüllung, wirst du, Harold Godwineson, nicht nur König von England sein, sondern Herrscher über ein nördliches Reich. Das Meere überspannt!«
Harold schien nicht übermäßig beeindruckt zu sein. »Ich werde also ein neuer Knut sein?«
»Größer als Knut«, hauchte Sihtric. »Viel größer.« Er sprach von der siebten Strophe, die die Entdeckung Vinlands und der anderen neuen Länder jenseits des Westmeeres beschrieb. »Niemand weiß, wie ausgedehnt diese riesigen Reiche sind …«
Harold hörte zu, ohne eine Miene zu verziehen. »Das Eis erschwert die Überfahrt nach Grönland, wie ich höre.«
»Aber von
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