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Eroberer

Eroberer

Titel: Eroberer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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Pflicht, die mir noch bleibt, besteht nun darin, die Prophezeiung an euch weiterzugeben. Ist das nicht wunderbar?« Er drückte die Prophezeiung an seine
Brust und schien mit den Tränen zu kämpfen. Wuffa erkannte, dass sich in diesen kurzen Augenblicken irgendwie sein ganzes Leben erfüllte.
    »Keiner von uns beiden kann lesen«, sagte Ulf pragmatisch. »Welchen Nutzen haben wir da für dich?«
    »Ihr könnt etwas auswendig lernen , oder nicht?«, erwiderte Ambrosias. »Euer Volk ist berühmt für seine Sagen, seine langen, trübseligen Gedichte. Ich höre sie vom Dorf in die Nachtluft emporsteigen, obwohl ich Sol Invictus danke, dass ich kein Wort verstehe. Ihr werdet die Prophezeiung auswendig lernen und sie euren Kindern beibringen, die sie wiederum ihren Kindern beibringen werden. Auf diese Weise wird die Prophezeiung in euren Familien weitergegeben, bis sogar ihr Nordgermanen die Vorzüge des Lesens und Schreibens erkennt. Meine Zeit ist um – mein Leben, meine Familie –, sogar mit Britannien oder dessen letzten Überresten geht es zu Ende. Es war eine heroische Epoche. Doch nun ist diese Zeit vorbei. Ihr seid die Zukunft, ihr Germanen, ihr Nordmänner. Ihr! So steht es im Menologium.«
    »Aber was hat das alles für einen Sinn?«, fragte Wuffa leise. »Was ist mit der fernen Zukunft? Was sagt dein Kalender über das Schicksal?«
    Ambrosias’ Augen waren riesig. »Es wird eine große Krise geben«, sagte er. »Am Ende des achten Großen Jahres.«
    »Und wann ist das?«
    »Wer kann es sagen? Mein Großvater hat einmal versucht, alle Monate im Menologium zusammenzuzählen
und durch zwölf zu teilen und so weiter, aber jeder weiß, dass man mit Zahlen, die größer als ein paar Hundert sind, nicht rechnen kann.«
    »Aber es wird erst in vielen hundert Jahren geschehen …«
    »O ja! In mehr als vierhundert Jahren, glaubte mein Großvater. Die ganze Welt wird erbeben, Norden und Süden werden sich feindlich gegenüberstehen. Aber ein Held wird erscheinen, und dank der Liebe seines Bruders wird er ein Weltreich gewinnen. Und dann wird die Zukunft vom Willen seiner Kinder – eurer Kinder – geprägt, und ihr werdet euch Arier nennen. Ein arisches Weltreich. Das ist sein Plan.«
    »Wessen Plan?«
    »Der des Webers. Des Spinners der Prophezeiung, der in seinem Palast der Zukunft sitzt und alles sieht – und der das neue Rom zu errichten trachtet. Aber ihr müsst wissen, wenn diese leuchtende Zukunft eintreten soll, muss die Prophezeiung in all den Großen Jahren in sämtlichen Einzelheiten erfüllt werden. Sonst wird sich ohne jeden Zweifel die Dunkelheit herabsenken.« Mit diesen ernüchternden Worten tätschelte er seine Prophezeiung und las sie im matten Licht der Talglampen noch einmal. »Also. Seid ihr bereit?«

XI
    Auf seinem Strohlager auf Ambrosias’ Küchenboden, den er sich – wenn auch ungern – mit Ulf teilte, fand Wuffa nur schwer Schlaf.
    Und als er doch eindöste, träumte er von Jahrhunderten, die sich wie eine riesige, vom Feuerschein erhellte Halle um ihn erstreckten.
    Er stellte sich vor, welche Macht das Menologium ihm und seiner Familie möglicherweise verleihen würde. Aber er hatte Angst. Durfte irgendjemand – und seien es die Götter – die Zukunft kennen? War es möglich, dass all dies eine ausgeklügelte Falle war, die Loki ihm gestellt hatte – eine Falle, in die er an jenem Tag geraten war, als er in einer Geisterstadt Fenster einwarf?
    Er träumte von Ambrosias’ feinem, verfallenem Gesicht, seinem runzligen Hals, dem monotonen Klang seiner Stimme, als er ihnen sein Menologium in die Köpfe geprügelt hatte. Und er stellte sich vor, wie er die Hände um diesen dürren Hals legte und das letzte Leben aus dem alten Mann herauspresste, der ihn und seine Nachfahren mit diesem prophetischen Fluch belegt hatte.
    Ein Schrei weckte ihn.

    Es war ein grauer Morgen. Er sah, wie Ulf mit raschen Schritten zur Tür hinausging. Er rappelte sich von seinem Lager hoch und eilte ihm nach.
    Es war der Bischof, der geschrien hatte. Wuffa fand ihn im triclinium , zusammen mit Sulpicia. Sie trugen beide ihr Nachtzeug, und zu einem anderen Zeitpunkt hätte der Anblick von Sulpicias Knöcheln und Waden, ihrer bloßen Arme ihn vielleicht abgelenkt. Aber Ulf war ebenfalls hier, und sein Blick war finster. Mattes, blaugraues Licht fiel durch die offene Tür herein.
    Auf den Boden lag Ambrosias, der letzte Römer. Sein Körper sah merkwürdig friedlich aus, die Arme lagen ausgestreckt an

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