Eroberer
den Seiten. Aber sein Kopf war in einem unmöglichen Winkel abgeknickt, und seine Kehle wies blaue Flecken auf.
Brandgeruch stieg Wuffa in die Nase. Er sah Asche um eine von Ambrosias’ Talglampen auf einem niedrigen Tisch herum, die Überreste eines verbrannten Pergaments.
Bischof Ammanius, dessen übel zugerichtete Nase bläulich verfärbt war, bebte vor Zorn. »Und dafür nun diese ganze lange Reise! … Es liegt auf der Hand, was hier geschehen ist. Der alte Mann hat euch beiden letzte Nacht seine Prophezeiung vorgelesen. Spart euch die Mühe, es abzustreiten. Ich habe ihn gehört, obwohl ich die Worte nicht verstehen konnte. Und dann ist einer von euch zurückgekommen, hat das Pergament vernichtet und diesen armen Teufel ermordet – einer von euch hat versucht, sich die Prophezeiung selbst anzueignen. Wenn ich daran denke, dass ich
euch angeworben habe, als ich sah, wie ihr einen alten Mann gerettet habt, nur damit es nun so endet, mit dem Mord an einem anderen von euren Händen.«
Wuffa sah Ulf an, der seinen Blick unverwandt erwiderte. Die einzigen noch verbliebenen Spuren von Isoldes Menologium existierten also nun in ihrer beider Köpfe, dachte Wuffa. Er hatte damit gerechnet, dass seine Rivalität mit Ulf ein Leben lang währen würde. Jetzt spürte er, dass diese Rivalität Jahrhunderte überdauern mochte. Er fröstelte, als würde sich die Halle der Zeit um ihn herum öffnen.
»Und vielleicht habt ihr den letzten lebenden Menschen ermordet, der Artorius kannte. Was für ein Verbrechen!« Ammanius funkelte sie an. Sein Blick wanderte von einem zum anderen. »Wer von euch war es? Wer von euch? «
Wuffa war kein Mörder. Aber er erinnerte sich an seine bruchstückhaften Träume. Wahrheitgemäß sagte er: »Ich weiß es nicht.«
ZWEITER TEIL
SCHREIBERIN 793 N. CHR.
I
Auf Lindisfarena war es ein später Morgen im Mai, während der Studierzeit im Kloster, als Elfgar und seine Freunde mit ihren schwarzen Seelen kamen, um sich Aelfric zu schnappen. Dieses zufällige unangenehme Ereignis löste ihr wahres Interesse am Menologium aus.
Der Zufall war es auch, der Belisarius, den Buchhändler aus Konstantinopel, nach Lindisfarena lockte: eine Begegnung mit einem ehrgeizigen Briten in einer südlichen Hafenstadt und eine Feuerprobe.
Und Gudrid hatte es von weither übers Meer hierher gezogen. Sie hätte wirklich nicht kommen sollen. Doch während ihr Vater und ihr Gatte es auf Gold abgesehen hatten, kam sie auf der Suche nach einer Legende der Liebe.
Ohne das Versprechen des Menologiums, dessen verworrene Fäden von der verlorenen Vergangenheit bis in die fernste Zukunft reichten, wäre keiner von ihnen dort gewesen, und ihr Leben wäre nicht durcheinandergeraten. Keiner von ihnen wäre dort gewesen ohne den Weber.
II
Für Aelfric fing der Tag gut an.
Sie ging barfuß über den taufeuchten Boden zur Kirche. Die klobigen Schatten der Mönche, die um sie herum übers Gras tappten, das Rascheln der Säume ihrer wollenen Kutten. Die zweite Äquinoktialstunde, wenn die Mönche zur Morgenandacht, Matutin, gerufen wurden, war für gewöhnlich eine scheußliche Zeit zum Verlassen der Zelle. An diesem Morgen war es jedoch warm und nicht ganz dunkel, denn der Mittsommer nahte, und die Insel Lindisfarena lag so weit im Norden der Welt, dass selbst jetzt ein wenig Licht am Himmel verweilte.
Sie drängten sich alle in die Kirche. Eingehüllt in den Gestank feuchter Wolle, kommunizierten die Mönche eifrig mit Hilfe von Zeichen, Mimik und Gebärden. Aber kein Wort wurde gesprochen, denn die Vorschrift des heiligen Benedikt, dessen Anweisungen jeden Aspekt des Lebens der Mönche regelten, lautete, dass die ersten gesprochenen Worte jedes Tages dem Lob des Herrn vorbehalten sein sollten. Der Kerzenschein brachte die Farben der Wandbehänge und Friese an den Wänden sowie das Silber und Gold, das den Schrein des heiligen Cuthbert schmückte, zum
Leuchten. Die Holzkirche war ein Ort der Zuflucht, der Wärme — denn trotz solcher Widerlinge wie Elfgar war dies nun in der Tat Aelfrics Familie.
Unter der Leitung des Abtes begannen die Mönche mit ihren Gesängen. Aelfric versuchte, ihrer Stimme einen tieferen Klang zu verleihen, aber sie sang mit Begeisterung. Man hatte ihr erklärt, die Gesänge seien von einem Erzkantor in Rom ersonnen worden. Es war eine wundervolle Vorstellung, dass die gesamte Christenheit in ganz Europa dieselben schönen Lieder sang.
Doch selbst während die Brüder sangen, ruhte Elfgars
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