Eroberer
Volk wirklich verschaffte, war Zeit.«
»Und weshalb hätte dieser Artorius hierher kommen sollen?«, wollte Wuffa wissen.
»Nach einer letzten Schlacht ist er in den Ruhestand getreten und hat sich hier niedergelassen«, sagte Ambrosias. »Er war schon ein alter Mann, und er war schwer verwundet – der Verrat und die Feigheit seiner
eigenen Männer haben ihn ebenso sehr zermürbt wie die Anstrengungen der Feinde. Er ist hier in Banna gestorben – am Wall, dem größten Monument des Imperiums, dessen Andenken er sein Leben geweiht hat.« Seine Augen waren jetzt feucht. »Zu anderen Zeiten hätten sie ihm hier einen Triumphbogen errichtet, der denen in Rom Konkurrenz gemacht hätte! Und ich, ein Kind, bin ihm vorgestellt worden. Er hat mir das Haar zerzaust! Hier.« Er kniete sich steif hin und zeigte Wuffa seinen gesenkten Kopf. »Berühre meine Kopfhaut. Na los!«
Wuffa warf dem Bischof einen Blick zu. Der zuckte die Achseln. Wuffa legte die Hand auf den Kopf des alten Mannes. Seine Haut fühlte sich papierdünn an; sie spannte sich über einen zerbrechlichen Schädel.
»Denkt immer daran. Erzählt es euren Kindern! …«
Nachdem das Gespräch noch eine Weile so weitergegangen war, stand Ammanius auf und reckte sich. »Deine Gastfreundlichkeit überanstrengt mich, Ambrosias«, sagte er auf seine trockene Art.
Sulpicia erhob sich. Sie hatte nicht vor, mit Wuffa und Ulf allein zu bleiben, selbst wenn der alte Mann als Anstandsdame fungierte. »Auch ich sage gute Nacht.« Und aus einem spontanen Impuls heraus drückte sie dem alten Mann einen leichten Kuss auf den Scheitel.
Ambrosias lächelte erfreut.
Wuffa und Ulf machten ebenfalls Anstalten, sich hochzurappeln. Aber Ambrosias hob die Hand in einer
unmissverständlichen Geste. Wartet . Lasst sie gehen .
Ambrosias schloss die Tür hinter dem Bischof und dem Mädchen. Dann ging er auf leisen Sohlen zu einem Schrank. »Ich dachte schon, der alte Narr mit der blutigen Nase würde nie müde werden. Unsere Angelegenheit hat nichts mit Bischöfen zu tun, nicht einmal mit diesem ganz bezaubernden Mädchen, das ihr beide begehrt.« Wuffa mied Ulfs Blick. Ambrosias nahm eine Schriftrolle aus dem überquellenden Schrank. Er warf den beiden einen Blick zu, aus dem eine komplizierte Mischung aus Bedauern und Sehnsucht sprach. »Der Zufall hat euch zwei im Gefolge des Bischofs hierher geführt. Aber so war es vorherbestimmt. Die alten Worte haben sich erfüllt.«
Wuffa sah Ulf wachsam an. Er merkte, wie sein Herz hämmerte; in Gegenwart dieses schlaffen alten Mannes, der nichts als eine Pergamentrolle schwang, bekam er auf einmal Angst. »Welche Worte?«, fragte er.
»Diese hier.« Ambrosias entrollte das Pergament und hielt es in zitternden Händen. »Das ist Isoldes Prophezeiung.«
X
Das Dokument war vom Alter vergilbt und schmutzig von der Berührung vieler Hände. Wuffa sah eine ziemlich unebene Handschrift; vielleicht waren die Worte in großer Eile hingekritzelt worden. Aber er konnte sie nicht lesen. Er konnte nicht einmal seinen eigenen Namen lesen.
»Das ist also die Prophezeiung«, warf Ulf ein.
»Ja! Sie wurde an Isoldes Entbindungsbett niedergeschrieben. Seit zweihundert Jahren bewahrt meine Familie sie auf – zweihundert Jahre des Wartens , nur für diesen Augenblick. Ich wusste, ihr würdet kommen. Ich wusste es.«
»Was soll das heißen?«, fragte Ulf vorsichtig. »Woher hast du es gewusst?«
»Weil das Licht in den Himmel zurückgekehrt ist.« Ambrosias zeigte zur Decke seines voll gestopften Gemachs.
»Der Komet«, hauchte Wuffa.
»Ja! Und die Besuche des Kometen strukturieren die Prophezeiung.« Mit zitternder Stimme begann Ambrosias vorzulesen:
Dies sind die Großen Jahre / von Gottes Kometen
Majestätisch und schön / im Dach der Welt
Erhellt Schritt für Schritt er / den Weg zum Reich
Einem arischen Reich / CHRISTI RUHM.
Der Komet kommt / im Monat Juni.
Ein goldener Mann / verschmäht silberne Treue.
Im Leben großer König / im Tod ein Zwerg.
Neunhunderteinundfünfzig / die Monde des ersten Jahres.
Der Komet kommt / im Monat September.
Nach fünfunddreißig Monden / dieses kriegerischen Jahres
Sieh den Bären, erlegt / vom Wolf des Nordens.
Neunhundertachtzehn / die Monde des zweiten Jahres …
»Und so weiter.« Ehrfürchtig sagte Ambrosias: »In dieser Prophezeiung heißt es, dass der Komet wiederkommen werde – und er ist ja auch früher schon hier gewesen.«
»Wie kann das sein?«, fragte Ulf vernünftig.
Weitere Kostenlose Bücher