Eroberer
Blick bleischwer auf Aelfric.
Sie hatte seinen raubgierigen Blick schon gleich nach ihrer Ankunft auf Lindisfarena bemerkt. Es war ein Blick, den sie hier , bei den Mönchen der Schildinsel, nicht erwartet hatte. Vielleicht konnte er den Gestank einer Frau an ihr riechen. Aber sie sah, wie andere – sogar jene, die älter waren als sie – sich ängstlich vor Elfgars Bande duckten.
Ein Pilger mochte im Glauben gehen, dass die Oblaten, Diakone und Novizen ihre täglichen Pflichten hier unter dem strengen, aber heiligen Auge des Abtes verrichteten, dass Domnus Wilfrid sich um ihre körperlichen Bedürfnisse kümmerte und dafür sorgte, dass sie Kleidung und Essen bekamen, und dass ihre Lehrer wie zum Beispiel Dom Boniface, der über Aelfric selbst wachte, ihre Seelen auf den richtigen Weg lenkten. Doch in der Unterwelt der Novizen und Diakone gab es eine andere Macht, und die wurde von
Leuten wie Elfgar ausgeübt. Mönche waren auch nur Menschen, und in mancher Hinsicht ähnelte das Kloster den Hallen der Thegns, wo Aelfric aufgewachsen war, und Elfgar einem Rabauken unter den Edelingen. Aelfric wusste nicht, was er wollte, aber ihr war klar, dass ihre Zeit mit ihm kommen würde.
Wovor sie wirklich Angst hatte, war, dass ihr Geheimnis aufgedeckt werden könnte: dass Elfgar herausfand, dass sie nicht Aelfric hieß, sondern Aelfflaed, dass sie kein junger Mann war, sondern eine Frau, und dass sie in diesem rein männlichen Hause Gottes überhaupt nichts zu suchen hatte.
Nach dem Ende der Matutin wurden die Mönche entlassen, damit sie vor der Prim, der ersten der sechs täglichen Gebetszeiten, noch ein wenig schlafen konnten. An diesem Morgen wollte Aelfric jedoch nicht wieder ins Bett. Als die Mönche im Gänsemarsch die Kirche verließen, war das Morgenlicht verlockend – ein dunkles, sattes Blau mit einer Spur Purpur darin, entschied sie mit dem Auge derjenigen, die gerade den Umgang mit farbigen Tinten erlernte. Aus einem spontanen Impuls heraus setzte sie sich von den anderen ab und schlug den Weg nach Süden zum Ufer ein. Sie ging in flottem Tempo, schwenkte die Arme und ließ die Beine pumpen, genoss die frische Seeluft in den Lungen und das Gefühl, wie das Blut durch ihre Adern strömte.
Am Meer watete sie bis zu den Knöcheln ins eiskalte Wasser. Körniger Sand, getüpfelt von kleinen Stücken Seekohle, glitt ihr zwischen die Zehen. Sie
war siebzehn Jahre alt, und sie hatte ihre Kindheit mit Jagen und spielerischen Kämpfen verbracht, die genauso hart waren wie die ihrer Brüder. Sie sehnte sich danach, ihre schwere Kutte abzuwerfen und nackt ins kalte Wasser des Ozeans zu rennen. Aber das war natürlich unmöglich; dieses kurze Planschen musste reichen.
Mit den Knöcheln im Wasser, die Kutte bis zu den Knien gelüpft, schaute Aelfric zu dem Kloster zurück, das sie zu ihrem Zuhause gemacht hatte.
Die Insel Lindisfarena war rund wie der namengebende Schild ( lind war ein altes britisches Wort) und so klein, dass man sie in einer Stunde überqueren konnte. Im Westen gab es eine sandige Landzunge, von den Mönchen Snook genannt – wie der Arm des Kriegers, der die Schildinsel trug. Lindisfarena war jedoch nur manchmal eine Insel. Ein Damm, ein durch Wattflächen führender Sandweg, verband das westliche Ende des Snook mit dem Festland, wurde jedoch zweimal am Tag für jeweils fünf Stunden überschwemmt. Aelfric sah Watvögel, die entlang des Damms nach Nahrung pickten, und Robben, die wie behaarte Kinder im flachen Wasser herumtollten.
Das Kloster selbst machte nicht viel her. Hinter einer niedrigen Mauer drängten sich die Zellen der Mönche, primitive Steinkuppeln, die jedermann »Bienenkörbe« nannte. Aelfric teilte sich einen mit Holzwänden ausgestatteten Schlafsaal mit anderen Novizen, glattgesichtigen Jungen, größtenteils Söhne von Thegns, die in ihrer Begriffsstutzigkeit nicht einmal
merkten, dass sie mit einer Frau zusammenwohnten. Eine weitere Gruppe rechteckiger Gebäude beinhaltete ein Refektorium mit Küche, eine Krankenstube, ein hospitium für Gäste – und natürlich die Bibliothek und das Skriptorium. Ein Rauchfaden stieg von einem Ofen auf, in dem Brot gebacken wurde.
Von hier aus sah es streng und karg aus. So winzig und abgelegen die Insel war, so bescheiden ihr Kloster aussehen mochte: Lindisfarena war eine der berühmtesten christlichen Stätten der Welt. Auf diese isolierte Insel vor der Küste hatte König Oswald von Northumbrien vor über einhundertfünfzig Jahren
Weitere Kostenlose Bücher