Eroberer
Morgendämmerung. Mit brummendem Schädel und knurrendem Magen setzten sie unter Leofgars Führung ihre lange Reise fort und ritten in die karge Hügellandschaft Northumbriens hinein.
Der grobe Akzent der Northumbrier war für Cynewulf so gut wie unverständlich. Sie waren ein griesgrämiger Haufen voller Aversionen gegen ihre britischen Nachbarn im Norden, die englischen Königreiche im Süden und ihre neuen dänischen Herren in Eoforwic. Auch ihre eigenen Landsleute mochten sie nicht besonders, und schon beim geringsten Anlass gingen sie einander an die Kehle und ließen alte Streitigkeiten neu aufleben. Und sie soffen wie die Bürstenbinder. In angetrunkenem Zustand pflegten sie lange, traurige Lieder über die großen Zeiten König Edwins, Oswalds oder Oswius zu singen, bevor sie zu kotzen, zu raufen oder zu bumsen anfingen – manchmal auch alles zugleich.
»Und das sind bloß die Mönche«, wie Arngrim trocken bemerkte.
Doch selbst in diesem mürrischen Volk waren die Veränderungen deutlich zu erkennen. Ganz unbewusst würzten sie ihre Rede mit dänischen Wörtern.
Und noch etwas war anders als früher. Märkte sprenkelten das Land: kleine Flecken, die an Kreuzungen oder Brücken aus dem Boden schossen – an jeder günstigen Stelle. Meist war es bloß ein wirrer Haufen von Ständen und Buden, wo man Pökelfleisch und Wintergemüse, Kleidungsstücke, Schuhe und Messer erstehen konnte. Seltsamerweise gab es sogar Schmuckstücke zu kaufen. Cynewulf hatte nur Könige, Thegns und Bischöfe sowie ihre Damen jemals Schmuck tragen sehen; hier besaßen sogar die einfachen Bauern glitzernde Spangen und Schulterfibeln.
All diese Veränderungen hatten die Dänen gebracht. Vor den Invasionen war England in riesige Güter aufgeteilt gewesen; es gab ein oder zwei Flüsse, die dem Transport oder dem Fischfang dienten, einiges gutes Flachland, das als Ackerland genutzt wurde, Bergland oder Heideland für die Schafe und so weiter. Die Güter waren nahezu autark, wie Miniaturländer. Und man ging davon aus, dass man das ganze Leben auf seinem Gut verbringen würde, gehalten von den Banden der Loyalität und der Steuerpflicht, und man trieb Tauschhandel auf den gutseigenen Märkten und gab dort auch sein Geld aus.
All das fegten die Dänen nun fort. Die dänischen Krieger, die das Land parzellierten, waren selbst Bauern. Aber ihre Güter waren kleiner, und alles, womit sie sich nicht selbst versorgen konnten, tauschten sie ein: vielleicht Schafsfelle gegen Bauholz, oder Pferde gegen Hopfen. Auf einmal explodierte der Handel in ganz England mit einem Netzwerk winziger Märkte, und gewaltige Geldmengen spülten durchs Land.
Und die Engländer in den neuen dänischen Gebieten, die eine Sorte von Herren gegen eine andere eingetauscht hatten, entdeckten paradoxerweise eine neue Form der Freiheit. Man musste nicht von dem Gut leben, auf dem man zufällig arbeitete; man konnte sich aussuchen, was man kaufen, tragen oder essen wollte. Und wenn man einen Überschuss produzierte, und sei es auch nur ein kleiner, konnte man sich ein wenig Luxus leisten: vielleicht Pfeffer oder ein anderes Gewürz, oder sogar ein Schmuckstück. Plötzlich
hatte man eine Wahl . Und Straßenhändler nutzten die Gelegenheit, raue Massen billiger Fibeln, Töpfe und Teller zu produzieren, um sie ihren neuen Kunden zu verkaufen.
All diese Märkte befanden sich an Orten, die vorher keines Namens bedurft hatten, und ein Regen neuer Ortsnamen ergoss sich auf das von den Dänen beherrschte England von Lunden bis Eoforwic und darüber hinaus – und die meisten dieser Namen waren dänisch.
Arngrim gefiel das nicht. »Selbst wenn Alfred siegt«, knurrte er, »selbst wenn er oder seine Söhne die Dänen wieder ins Meer treiben, woher sie gekommen sind, wird es schwer sein, all dies wieder aus dem Bewusstsein der Menschen zu tilgen.«
VIII
Endlich erreichten sie Eoforwic, das unter den Römern Eburacum geheißen hatte und das seine neuen dänischen Könige Jorvik nannten. Wie der Name der Stadt auch lauten mochte, ihr steinerner römischer Kern stand noch immer mitten auf seinem hoch gelegenen Gelände über dem Fluss. Kais schlängelten sich zum Wasser, und Karren und Fußreisende schleppten sich holprige Wege an den Stadtmauern entlang.
Um zur Stadt zu gelangen, mussten die Reisenden eine von den Römern erbaute, verfallene, verwitterte, vom Feuer zernarbte, aber immer noch solide Brücke überqueren, auf der reger Betrieb herrschte. Von der Brücke
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