Eroberer
Stellenwert gehabt hatten. Aber für Alfred, den Gelehrten-König, waren Worte auf Pergament eine Kriegswaffe; er wusste, dass das römische Heer dank unablässig aufgezeichneter Worte, Worte und noch mehr Worte die große kollektive Klugheit aufgeboten hatte, mit deren Hilfe es ihm einst gelungen war, die Welt zu erobern. Deshalb hatte Alfred nach des Lesens und Schreibens kundigen Dienern aus den britischen Volksstämmen des Westens und Nordens, Irland und sogar vom Kontinent gesucht.
Heute waren die – wenn auch noch so gewissenhaft zusammengetragenen – Nachrichten jedoch düster.
Es gab drei wichtige Volksstämme unter den Nordmännern: die Norweger, die Schweden und die Dänen. Den Überfall auf Lindisfarena hatten die Norweger ausgeführt. Sie griffen Britannien, Irland und die fränkischen Königreiche an und gründeten Kolonien in Irland und auf den Inseln vor der britischen Küste. Manche behaupteten, die Norweger seien auf der Suche nach Ländern jenseits des Ozeans, die nur den Menschen der Antike bekannt gewesen seien, immer weiter nach Westen vorgedrungen.
Die Schweden schauten währenddessen gen Osten. Auf den großen kontinentalen Flüssen drangen sie tief nach Asien vor; dabei schleppten sie ihre Boote sogar von einem Wasserweg zum anderen. Am Ende griffen sie sogar Konstantinopel an.
Und die Dänen wandten sich – angeblich auf der
Flucht vor tyrannischen Königen – nach Westen und Süden und griffen Britannien und Westeuropa an; die Kleinkönigreiche Englands und ein zersplittertes Europa warteten geradezu darauf, von diesen wilden Plünderern wie reife Früchte gepflückt zu werden. Nach fünf Dekaden unablässiger Nadelstiche änderte sich der Charakter dieser Einfälle. Eine neue Generation dänischer Eindringlinge kam in großen, koordinierten Wellen, weitaus zahlreicher als zuvor, und begann im Land zu überwintern. Sie waren hier, um sich nicht nur Reichtümer, sondern auch das Land zu nehmen.
Alfreds ganzes Leben war von den Kriegen gegen die Dänen geprägt.
Alle vier Söhne von Alfreds Vater, Aethelwulf, wurden Könige. Und während der Regentschaft des zweiten Sohnes, Aethelbert, kam das dänische »Große Heer« nach England, eine einheitliche Truppe von vielleicht zweitausend Kriegern. Die Dänen landeten in Ostanglien, dessen König um Frieden bat. Dann zogen sie nordwärts nach Northumbrien hinein, wo sich, wie üblich, rivalisierende Könige gerade an die Kehle gingen. Die Dänen räucherten die großartige alte Stadt Eoforwic aus, und bei einem gewaltigen Blutbad in der Umgebung der römischen Mauern fanden die rivalisierenden northumbrischen Könige beide den Tod. Einer von ihnen, Aelle, fiel dem Blutadler zum Opfer: Man riss ihm den Rücken auf und zog die Lungenflügel heraus. Northumbrien, ein Königreich, das einst Britannien beherrscht hatte, war wie ein trockener Pilz in sich zusammengefallen.
Im nächsten Sommer griff das Große Heer Mercien an. Der gerade erst neunzehnjährige Alfred beteiligte sich an einer Belagerung der Dänen in Snotingaham. Mercien fiel; nebst anderer Beute eroberte das Große Heer auch Lunden. Die Ostangeln leisteten verspätet Widerstand, aber ihr König, Edmund, wurde ebenfalls gestürzt; auch er erlitt den Blutadler.
Nur fünf Jahre nach der Landung des Großen Heeres war lediglich noch Wessex übrig, und es bekam nun die ganze Wildheit der Dänen zu spüren. Alfred und seine Brüder errangen an einem Ort namens Aescesdun einen großen Sieg für die Engländer. Es stellte sich jedoch heraus, dass die wiederholten Schlachten zu keiner Entscheidung führten. König Aethelred, Alfreds letzter überlebender Bruder, starb an Wunden, die er sich auf zu vielen Schlachtfeldern zugezogen hatte. Alfred, sein Nachfolger auf dem Thron, bat um Frieden; beide Seiten waren erschöpft.
Das Große Heer nutzte die Zeit, um seine Eroberungen zu konsolidieren. Weitere Dänen strömten aus ihrer Heimat herbei und ließen sich in Northumbrien, Ostanglien und im Nordosten von Mercien nieder. Ihre Anführer prägten in Lunden bereits ihre eigenen Münzen, und Eoforwic entwickelte sich allmählich zu einem dänischen Marktplatz, einem Knotenpunkt einer Handelsföderation, die sich von Irland über Nordengland bis tief nach Europa und sogar nach Asien hinein erstreckte.
Die Masse des gemeinen Volkes schuftete auf ihrem Land, so wie sie es immer getan hatte. Doch wenn
Wessex fiel, würde dies das Ende von England bedeuten. Und in einem neuen, entschieden
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