Eros und Evolution
plötzlich überhaupt keinen Sinn zu haben.
Von jenem Tag an war die Bedeutung der Sexualität eine offene Frage, die man zur Königin aller evolutionstheoretischen Probleme kürte. 1 Doch aus aller Verwirrung heraus gewinnt allmählich eine Antwort Konturen. Um sie zu verstehen, müssen Sie eine spiegelverkehrte Welt betreten, in der nichts so ist, wie es scheint. Sexualität hat nichts mit Fortpflanzung zu tun, Geschlecht nichts mit Mann und Frau, Werbung nichts mit Verführung, Mode nichts mit Schönheit und Liebe nichts mit Zuneigung.
Als Charles Darwin und Alfred Wallace im Jahre 1858 ihre erste überzeugende Darstellung eines Evolutionsmechanismus veröffentlichten, befand sich die viktorianische Ausgabe jener Form von Optimismus, die man auch als »Fortschritt« bezeichnet, gerade auf ihrem Höhepunkt. Es überrascht kaum, daß Darwin und Wallace prompt so interpretiert wurden, als huldigten ihre Überlegungen dem Gott dieses Fortschritts. Ihre unmittelbare Popularität verdankte die Evolutionstheorie (die sich in der Tat ungeahnter Beliebtheit erfreuen sollte) zu einem großen Teil der Tatsache, daß man sie als eine Theorie des steten Fortschritts von der Amöbe bis zum Menschen mißverstand, einer Leiter ineinandergreifender Verbesserungen.
Heute, nahezu am Ende des zweiten Jahrtausends, ist die Menschheit von anderen Gedanken beseelt. Sie erkennt, daß der Fortschritt im Begriff ist, an die Grenzen von Überbevölkerung, Treibhauseffekt und Erschöpfung der Ressourcen zu stoßen. Wie rasch wir auch laufen, wir scheinen nicht vom Fleck zu kommen. Hat die industrielle Revolution den Weltbürger im Durchschnitt gesünder gemacht, wohlhabender und weiser? Gespenstischerweise (ein Philosoph würde uns allerdings glauben machen wollen: vorhersehbarerweise) entspricht der derzeitige Stand der Evolutionstheorie dieser Haltung. In den Evolutionswissenschaften ist es derzeit en vogue, Fortschritt zu verspotten; die Evolution ist keine Leiter, sie ist eine Tretmühle.
Schwangere Jungfrauen
Für den Menschen ist Sexualität die einzige Möglichkeit, Babys zu bekommen, und genau das schien der einzige Sinn der Sexualität zu sein.
Erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts begann man, diese Vorstellung in Zweifel zu ziehen. Man erkannte, daß es offenbar alle möglichen, besseren Wege zur Fortpflanzung gab: Mikroskopisch kleine Tiere zweiteilen sich. Weidenbäume wachsen aus Stecklingen.
Der Löwenzahn produziert Samen, die aus dem Erbgut der Mutterpflanze geklont sind. Jungfräuliche Blattwespen gebären jungfräuliche Nachkommen, die bereits mit weiteren Jungfrauen schwanger sind. Der Zoologe August Weismann formulierte dies im Jahre 1902 deutlich: »Eine so fundamentale Einrichtung [wie die Amphimixie, die Vermischung zweier Keimplasmen] muß eine fundamentale Bedeutung haben, und es fragt sich, wo diese liegen könnte? … Soviel läßt sich von vornherein sagen: in der Ermöglichung der Fortpflanzung kann sie nicht liegen, denn diese geschieht auch ohne sie auf die verschiedenste Weise, durch Zwei- oder Mehrtheilung des Organismus, durch Knospung, durch Erzeugung einzelliger Keime.« 2
Weismann war der erste, der diese Schule machende Auffassung vertrat. Seither haben Evolutionsbiologen bis auf den heutigen Tag in regelmäßigen Abständen erklärt, daß Sexualität ein Luxus sei, den es eigentlich nicht geben dürfte.
Einer Anekdote zufolge soll es bei einem frühen Treffen der Royal Academy im London des siebzehnten Jahrhunderts, bei dem auch der König anwesend war, zu einer ernsthaften Diskussion darüber gekommen sein, weshalb ein Glas Wasser mit einem Goldfisch darin dasselbe wöge wie ein Glas Wasser ohne Fisch. Alle möglichen Erklärungen wurden vorgeschlagen und wieder verworfen. Die Debatte war recht hitzig, bis der König unvermittelt erklärte: »Ich bezweifle Ihre Prämisse.« Er schickte nach einem Goldfischglas samt Wasser, Fisch und einer Waage. Man stellte das Glas auf die Waage, fügte den Fisch hinzu, und das Gewicht des Glases erhöhte sich exakt um das Gewicht des Fisches – natürlich.
Die Geschichte ist zweifellos erfunden, und es wäre unfair, zu behaupten, daß die Wissenschaftler, denen Sie bei der Lektüre dieses Buches begegnen werden, so töricht seien, ein Problem zu vermuten, wo keines ist. Und doch gibt es eine kleine Parallele. Als eine Gruppe von Wissenschaftlern plötzlich äußerte, sie könne sich nicht erklären, weshalb es Sexualität gebe, und sie
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