Eros und Evolution
Bereitschaft. So verfügt ein Kind beispielsweise über eine nahezu unendliche Plastizität, wenn es darum geht, das Vokabular seiner Muttersprache zu erlernen. Es lernt mühelos, daß das Wort für Kuh vache, cow oder irgendein anderer Begriff ist.
Geht es aber darum, zu blinzeln oder sich zu ducken, wenn sich ein Gegenstand, zum Beispiel ein Ball, mit großer Geschwindigkeit seinem Gesicht nähert, dann benötigt es überhaupt keine Plastizität. Müßte es einen solchen Reflex erlernen, so wäre dies äußerst schmerzhaft. Der Blinzelreflex ist also angelegt, der Wortschatzspeicher in seinem Gehirn ist plastisch.
Nun hat das Kind aber nicht gelernt, daß es einen Wortschatzspeicher benötigt. Es wird damit geboren und bringt gleichzeitig auch eine brennende Neugier darauf mit, die Namen von Dingen zu erlernen. Mehr noch: Wenn es das Wort »Tasse« lernt, dann weiß es ohne weitere Erläuterungen, daß dies die allgemeine Bezeichnung für jede beliebige Tasse ist, nicht für deren Inhalt, nicht für den Henkel und auch nicht für die ganz spezielle Tasse, die es beim ersten Mal gesehen hat, sondern für eine ganze Klasse von Gegenständen, die man als Tassen bezeichnet.
Ohne diese beiden angeborenen Instinkte der »Verallgemeinerung auf den ganzen Gegenstand« und der »taxonomischen Verallgemeinerung« (Chomsky: whole object assumption und taxonomic assumption) wäre Sprache weitaus schwerer zu lernen. Kinder befinden sich ständig in der Lage des legendären Forschers, der auf ein ihm bisher unbekanntes Tier deutet und seinen ortskundigen Führer fragt: »Was ist das?« Worauf der Führer antwortet: »Känguruh« – in seiner Sprache aber heißt das: »Das weiß ich nicht.«
Mit anderen Worten: Es ist schwer zu begreifen, wie Menschen lernen (plastisch sein) können, ohne über Voraussetzungen (eine angelegte Bereitschaft) zu verfügen. Die alte Vorstellung, Instinkt und Lernen seien einander entgegengesetzt, ist schlicht falsch. Der Psychologe William James vertrat vor hundert Jahren die Auffassung, der Mensch verfüge über eine größere Lernkapazität und mehr Instinkte statt über mehr Lernfähigkeit und weniger Instinkte. Man hat ihn deshalb ausgelacht, aber er hatte recht.
Kehren wir zum Beispiel Sprache zurück. Je intensiver die Wissenschaft sich mit dem Spracherwerb beschäftigt, um so deutlicher wird es, daß viele Aspekte von immenser Bedeutung – wie die Grammatik und natürlich, vor allem anderen, zunächst einmal überhaupt der Wunsch zu sprechen – gar nicht durch Nachahmung gelernt werden. Kinder entwickeln Sprache einfach von selbst. Das mag nun einigermaßen abwegig erscheinen, denn ein Kind, das in der Isolation aufwächst, entwickelt sich nicht, wie König James I. von England gehofft hatte, zu einem Hebräisch sprechenden Wesen. Wie sollte es auch? Kinder müssen das Vokabular und die jeweils für ihre Sprache spezifischen Beugungs- und Satzbauregeln lernen. Nahezu alle Linguisten aber sind heute mit Noam Chomsky einer Meinung, daß es eine »Tiefenstruktur« gibt, die allen Sprachen gemeinsam und in jedes Gehirn einprogrammiert ist und nicht erlernt wird. Begründet liegt diese gemeinsame »Tiefenstruktur« (als die man zum Beispiel Gegebenheiten verstehen muß wie die Kennzeichnung eines Hauptworts als Subjekt oder Objekt entweder durch die Deklination oder durch seine Stellung innerhalb des Satzes) darin, daß alle Gehirne dasselbe »Sprachorgan« besitzen.
Das »Sprachorgan« ist bei einem Kind einfach vorhanden und wartet darauf, Regeln anzuwenden. Ein Kind leitet die grammatikalischen Grundregeln ohne jede Anweisung allein her, eine Aufgabe, die über die Leistungsfähigkeit eines Computers weit hinausgeht – es sei denn, man hat ihn mit einem gewissen Grundwissen ausgestattet.
Ab dem Alter von etwa anderthalb Jahren bis kurz nach der Pubertät sind Kinder davon fasziniert, Sprache zu erlernen, und sie lernen in dieser Zeit weit müheloser, auch mehrere Sprachen gleichzeitig, als Erwachsene das je könnten. Gleichgültig, wieviel Unterstützung und Ermutigung sie erfahren: Kinder lernen sprechen. Man muß ihnen keine Grammatik vermitteln, jedenfalls nicht, wenn sie es mit lebenden Sprachen zu tun haben, die sie gesprochen hören; sie erlernen sie intuitiv. Sie sind unablässig dabei, erlernte Regeln zu verallgemeinern – ungeachtet aller falschen Beispiele, die ihnen zu Ohren kommen. Das Sprechenlernen erfolgt ganz ähnlich wie das Sehenlernen: Die Plastizität des
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