Eros und Evolution
deshalb ist seine Schlußfolgerung daraus falsch. Weisheitszähne sind keine kulturellen Artefakte; sie sind genetisch bedingt, auch wenn sie sich erst in der späten Jugend entwickeln und auch wenn es kein Gen gibt, das explizit sagt: »Laß Weisheitszähne wachsen.« Mit dem Ausdruck »ein Gen für Aggression« will Gould die Situation andeuten, daß der Aggressivitätsunterschied zwischen Person A und Person B sich auf einen Unterschied im Gen X zurückführen lassen müßte. Doch ebenso wie alle möglichen umweltbedingten Unterschiede – zum Beispiel die Ernährung und die Wahl des Zahnarztes – dazu führen können, daß Person A größere Weisheitszähne hat als Person B, so können auch alle möglichen genetischen Unterschiede – solche beispielsweise, die Einfluß haben auf das Gesichtswachstum, auf die Resorption von Kalzium und auf die Reihenfolge, in der die Zähne auftreten – dazu führen, daß Person A größere Weisheitszähne hat als Person B. Dasselbe gilt für die Aggression.
Irgendwann im Verlauf unserer Ausbildung nehmen wir, ohne darüber nachzudenken, die Idee in uns auf, daß Angeborenes (Gene) und Erworbenes (Umwelt) Gegensätze sind, und daß wir uns jeweils für das eine oder das andere entscheiden müssen. Entscheiden wir uns für die umweltbedingte Sichtweise, dann setzen wir eine universelle menschliche Natur voraus, einem unbeschriebenen Blatt Papier gleich, das auf den Schriftzug der Kultur wartet; wir gehen davon aus, daß alle Menschen gleich geboren werden und vervollkommnet werden können. Entscheiden wir uns für die Gene, dann setzen wir irreversible genetische Unterschiede zwischen Individuen und zwischen Rassen voraus. Wir würden zu Fatalisten werden und in elitären Kategorien denken. Wer würde nicht von ganzem Herzen hoffen und wünschen, daß die Genetiker unrecht haben?
Der Anthropologe Robin Fox hat dieses Dilemma als ein Ringen zwischen Erbsünde und Vervollkommnung menschlicher Natur bezeichnet. Er porträtiert das Dogma der Verfechter umweltbedingter Erklärungen folgendermaßen: »Diese Rousseausche Tradition hat einen bemerkenswert starken Einfluß auf die Vorstellungen der abendländischen Kultur seit der Renaissance. Es wird befürchtet, daß wir ohne sie zu Opfern reaktionärer politischer Überzeugungen der verschiedensten Arten von Bösewichten würden, angefangen von den Sozialdarwinisten bis hin zu Eugenikern, Faschisten und Konservativen der Neuen Rechten. Um diesem Unheil zu entgehen, so das Argument, müssen wir darauf beharren, daß der Mensch entweder neutral geboren wird (als tabula rasa), oder aber, daß er von Geburt an gut ist und ihn schlimme Umstände dazu veranlassen, sich böse zu verhalten.« 6 Die Vorstellung vom Menschen als einer tabula rasa geht zwar auf John Locke zurück, doch sollte sie in diesem Jahrhundert ihren eigentlichen Siegeszug im Hinblick auf die intellektuelle Vorherrschaft antreten. Als Reaktion auf die schwachsinnigen Ideen der Sozialdarwinisten und Eugeniker begannen zahlreiche Denker – zunächst aus den Reihen der Soziologen, später auch aus denen der Anthropologen und schließlich auch der Psychologen – sich entschlossen dazu zu bekennen, daß der Mensch zu erziehen sein müsse, und schoben damit den Verfechtern einer biologischen, genetisch manifestierten Veranlagung die Beweislast zu. Solange man keinen Beweis für das Gegenteil habe, sei der Mensch als Geschöpf seiner Kultur, und nicht umgekehrt die Kultur als Produkt der menschlichen Natur zu betrachten.
Mit seiner Behauptung, der Mensch sei ein unbeschriebenes Blatt, auf das die Kultur schreibt, legte Emile Durkheim, Begründer der Soziologie, im Jahre 1895 den Grundstein für diese Wissenschaft. Seither haben sich seine Ideen zu drei ehernen Regeln verhärtet. Erstens: Jedwede Variabilität zwischen Kulturen muß kulturbedingt sein und hat keine biologischen Ursachen. Zweitens: Alles, was bei der Geburt nicht vollständig entwickelt vorhanden, sondern einer Entwicklung unterworfen ist, muß erlernt sein. Drittens: Alles genetisch Bedingte ist notwendigerweise unflexibel. Kein Wunder also, daß die Sozialwissenschaften mehr oder weniger entschlossen an der Vorstellung festhalten, es könne im menschlichen Verhalten nichts »Angeborenes« geben, denn zwischen verschiedenen Kulturen bestehen enorme Unterschiede. Vieles entwickelt sich nach der Geburt, und etliches ist einfach flexibel. Deshalb können ihrer Ansicht nach die Mechanismen des menschlichen
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