Eros und Evolution
moderne Mensch sein Gehirn braucht. Das Problem ist, daß nahezu jeder Aspekt menschlicher Intelligenz, den man als dem Menschen eigentümlich betrachten möchte, auf die anderen Menschenaffen auch zutrifft. Ein beträchtlicher Teil unseres Gehirns wird für die visuelle Wahrnehmung beansprucht; doch ist kaum zu erklären, weshalb für Lucy plötzlich die Notwendigkeit bestanden haben sollte, ein besseres visuelles Sehvermögen zu entwickeln als ihre entfernten Cousins und Cousinen. Gedächtnis, Gehör, Geruch, Gesichtserkennung, Selbsterkenntnis, manuelle Geschicklichkeit – sie alle nehmen im menschlichen Gehirn größeren Raum ein als im Gehirn eines Schimpansen, und doch ist schwer zu verstehen, weshalb eine dieser Fähigkeiten eher bei Lucy zu mehr Nachwuchs geführt haben sollte als bei einem Schimpansen. Was uns fehlt, ist ein qualitativer Sprung vom Menschenaffen zum Menschen, ein wesensmäßiger Unterschied also, der den menschlichen Verstand so veränderte, daß das größtmögliche Gehirn zum erstenmal auch das bestmögliche Gehirn war.
Es gab eine Zeit, da fiel es leicht zu definieren, was den Menschen von (anderen) Tieren unterschied (und das klang ungefähr so): Der Mensch lernt; Tiere haben Instinkte. Der Mensch verwendet Werkzeuge und besitzt Bewußtsein, Kultur und Selbsterkenntnis; Tiere haben all das nicht.
Allmählich haben wir erkannt, daß die Grenzen hier fließend sind und daß es sich nicht um qualitative Unterschiede, sondern im Grunde lediglich um graduelle Unterschiede handelt. Schnecken lernen. Finken verwenden Werkzeuge. Delphine bedienen sich einer Sprache. Hunde haben ein Bewußtsein, Orang-Utans erkennen sich im Spiegel selbst.
Rotgesichtmakaken tradieren kulturelle Gepflogenheiten. Elefanten trauern um ihre Toten.
Das soll nun nicht heißen, daß jedes Tier hinsichtlich jeder dieser Handlungen dem Menschen ebenbürtig sei, aber man sollte nicht vergessen, daß die Menschheit einst den Tieren nicht überlegen war und daß sie plötzlich unter dem Druck gestanden haben muß, besser und besser zu werden – für Tiere gab es einen solchen Druck offenbar nicht. Ein gut ausgebildeter Humanist lächelt sicher bereits spöttisch ob solcher Spitzfindigkeit. Nur Menschen sind in der Lage, Werkzeuge herzustellen und sie dann auch selbst zu verwenden. Nur Menschen sind in der Lage, Grammatik und einen reichen Wortschatz zu verwenden. Nur Menschen sind in der Lage, Gefühle zu empfinden und ihnen auch Ausdruck zu verleihen. Nahezu jede Diskussion über das Bewußtsein geht a priori davon aus, daß dies ein typisch menschliches Merkmal sei, wo es doch für jeden, der einmal einen Hund gehalten hat, offenkundig ist, daß jeder beliebige Hund träumen, traurig oder glücklich sein und einen Menschen vom anderen unterscheiden kann. Einen Hund als Automaten ohne Bewußtsein zu bezeichnen, das zeugt von Ignoranz.
Der Mythos Lernen
An diesem Punkt zieht sich ein Humanist in aller Regel auf seine stärkste Bastion zurück: Lernen. Der Mensch, so erklärt er, ist in seinem Verhalten von einzigartiger Flexibilität, er paßt sich Wolkenkratzern mit derselben Leichtigkeit an wie Kohlebergwerken, Tundren und Wüsten.
Das ist deshalb so, weil er sich im Gegensatz zu anderen Tieren weniger auf Instinkte verläßt, sondern statt dessen mehr lernt. Das Erlernen dessen aber, was in der Welt vor sich geht, erfordert höher entwickelte Fähigkeiten – und somit auch ein größeres Gehirn – als ein Wesen sie benötigte, das mit einem vorgefertigten Programm in die Welt gesetzt wird. Die Gehirngröße des Menschen reflektiere also dessen Entwicklung weg von den Instinkten und hin zum Lernen.
Wie so ziemlich jeder andere auch, der je über diese Dinge nachgedacht hat, fand ich diese Logik zunächst unfehlbar, doch dann las ich ein Buch mit dem Titel The Adapted Mind von Leda Cosmides und John Tooby, beide von der University of California in Santa Barbara. 3 Sie hatten es sich zur Aufgabe gemacht, an einer weitverbreiteten Überzeugung zu rütteln, welche die Psychologie und die meisten anderen Sozialwissenschaften über viele Jahrzehnte hinweg beherrscht hat daß Instinkt und Lernen einander entgegengesetzte Enden eines Spektrums seien und daß ein Tier, das sich auf seine Instinkte verläßt, nicht vom Lernen abhängig sei, beziehungsweise daß jemand, der lernt, von Instinkten unabhängig sei. Das stimmte einfach nicht. Lernen erfordert Plastizität, ein Instinkt basiert auf einer angelegten
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