Eros und Evolution
Wortschatzspeichers wird mit der angelegten Bereitschaft des Gehirns zur Anwendung von Regeln zusammengeführt. Man muß dem Gehirn beibringen, daß ein bestimmtes großes Tier mit Euter Kuh heißt. Um aber eine Kuh auf dem Feld zu erkennen, muß der für das Sehen zuständige Teil des Gehirns das vom Auge empfangene Bild über eine Reihe hochentwickelter mathematischer Filter verarbeiten – das alles geschieht unbewußt, ist angeboren und nicht erlernbar. Ebenso weiß der für die Sprache zuständige Teil des Gehirns ohne weitere Erläuterungen, daß sich das Wort für große Tiere mit Euter grammatikalisch höchstwahrscheinlich wie ein Hauptwort und nicht wie ein Verb verhalten wird. 4 Was ich damit sagen will, ist, daß nichts einem Instinkt näher kommt als die Prädisposition zum Erlernen einer Sprache. Sie ist nicht vermittelbar, sondern fest verkabelt. Sie ist nicht erlernt, sondern – welch schrecklicher Gedanke – genetisch bedingt. Und doch ist kaum etwas plastischer als Wortschatz und Satzbau, deren sich diese Prädisposition bedient. Die Fähigkeit, eine Sprache zu erlernen, ist, wie nahezu alle anderen menschlichen Gehirnfunktionen auch, ein Lerninstinkt.
Angenommen, ich habe recht, und Menschen sind wirklich nur Tiere mit ungewöhnlich vielen trainierbaren Instinkten, dann läßt sich eine solche Feststellung nur allzuleicht als Entschuldigung für instinktives Verhalten mißverstehen. Wenn ein Mann einen anderen tötet oder eine Frau verführt, dann handelt er lediglich seiner Natur gemäß. Welch düstere, amoralische Botschaft. Es muß doch eine natürliche, moralischere Basis für die menschliche Psyche geben als diese. Die jahrhundertealte Debatte zwischen den Jüngern Rousseaus und Hobbes’ – ob das Wesen der Menschen dem eines verdorbenen, einstmals edlen Wilden oder dem eines zivilisierten Rohlings entspricht – geht am Eigentlichen vorbei. Die Indizien sprechen für Hobbes. Wir sind unseren Instinkten nach roh, und manche unserer Instinkte sind abstoßend. Natürlich sind einige andere Instinkte auch sehr moralisch, und die unerschöpfliche menschliche Fähigkeit zu Altruismus und Großmut – der Leim, der jede Gesellschaft zusammenhält – ist ebenso naturgegeben wie die Eigensucht. Und doch gibt es auch egoistische Instinkte. Männer sind instinktiv sehr viel eher in der Lage, zu morden oder vielfältige sexuelle Beziehungen einzugehen, als Frauen. Doch Hobbes’ Feststellung ist insofern bedeutungslos, als Instinkte sich mit dem Lernen verbinden. Keiner unserer Instinkte ist unabdingbar; keiner ist unüberwindlich. Moral hat nichts mit Natur zu tun. Sie geht niemals davon aus, daß Menschen Engel sind oder daß das, was sie den Menschen abverlangt, von selbst eintreten könnte. »Du sollst nicht töten« ist keine freundliche Mahnung, sondern ein scharf formuliertes Gebot, jedweden diesbezüglichen Instinkt zu unterdrücken – andernfalls ist mit Strafe zu rechnen.
Erworbenes und Angeborenes sind keine Gegensätze
Die Erkenntnis, daß der Mensch über einen Lerninstinkt verfügt, zerstört die gesamte Dichotomie – Lernen/Instinkt, Angeborenes/Erworbenes, Gene/Umwelt, menschliche Natur/menschliche Kultur – und alle anderen Dualismen, die seit Descartes jede wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Verstand überschattet haben. Wenn das Gehirn aus hochspezialisierten, ihrem Inhalt nach aber flexiblen Mechanismen besteht, die sich im Laufe der Evolution herausgebildet haben, dann kann man die Tatsache, daß ein Verhalten flexibel ist, nicht mehr als einen Hinweis darauf werten, daß es »kulturbedingt« sei. Die Fähigkeit zum Gebrauch von Sprache ist insofern »genetisch bedingt«, als in den genetischen Anweisungen zur Zusammensetzung eines menschlichen Körpers auch eine Vorrichtung zum Spracherwerb vorgesehen ist. Sie ist gleichzeitig aber auch »kulturbedingt« in dem Sinne, daß Satzbau und Wortschatz willkürlich sind und erlernt werden. Darüber hinaus ist sie entwicklungsbedingt, denn die Vorrichtung zum Spracherwerb wird nach der Geburt größer. Die Tatsache, daß Sprache nach der Geburt erworben wird, ist nicht automatisch damit gleichzusetzen, daß sie kulturbedingt ist. Auch Zähne wachsen nach der Geburt.
»Ein Gen für Aggression gibt es genausowenig, wie es ein Gen für Weisheitszähne gibt«, schrieb Stephen Jay Gould und wollte damit ausdrücken, daß Verhalten kulturbedingt und nicht »biologisch bedingt« sei. 5 Damit hat er natürlich recht, aber genau
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