Eros und Evolution
Wenn das Ganze etwas mit Genetik zu tun hat, wie es die Verfechter dieser Theorie vermuten, warum müssen wir dann davon ausgehen, daß die Kombination von Genen, die in dieser Generation das Rennen gemacht hat, in der nächsten Generation automatisch versagt? Man kann um diese Schwierigkeiten herumkommen, aber die Erklärungen klingen dann immer ein bißchen an den Haaren herbeigezogen. Es ist nicht schwer, einen Fall zu finden, in dem Sexualität von Vorteil ist. Doch daraus ein allgemeingültiges Prinzip abzuleiten, gültig für jeden Lebensraum, für jede Säuger- und Vogelart und für jeden Nadelbaum, ein Prinzip, das den Vorteil der sexuellen gegenüber der asexuellen Fortpflanzung auch dann noch überzeugend erklären kann, wenn man berücksichtigt, daß die Rate der Nachkommen bei der asexuellen Vermehrung doppelt so hoch ist – dieses Prinzip zu formulieren, dazu kann sich niemand so recht durchringen.
Es gibt einen weit praxisbezogeneren Einwand gegen die Tangled-Bank-Theorie. Ihre Verfechter sagen voraus, daß Tiere und Pflanzen mit sehr vielen kleinen Nachkommen, die miteinander in Konkurrenz treten, ein größeres Interesse an sexueller Fortpflanzung haben müßten als Pflanzen und Tiere, die wenige große Nachkommen haben. Auf den ersten Blick scheint die Größe des Nachwuchses kaum Rückschlüsse darauf zuzulassen, ob eine Art sich sexuell fortpflanzt oder nicht. Blauwale, die größten Tiere der Welt, haben riesige Nachkommen – jedes davon wiegt mehr als fünf Tonnen. Mammutbäume, die größten Pflanzen der Welt, haben winzige Samen – das Gewichtsverhältnis von Pflanze zu Samen entspricht dem Gewichtsverhältnis zwischen dem Planeten Erde und der Pflanze. 16 Und doch pflanzen sich Wale und Mammutbäume sexuell fort. Im Gegensatz dazu hat eine Amöbe, die sich bei der Vermehrung zweiteilt, ein riesenhaftes »Junges«, genauso groß wie »sie selbst«. Und doch pflanzt sie sich nie sexuell fort.
Ein Schüler von Graham Bell, Austin Burt, zog aus, die Wirklichkeit zu betrachten, um festzustellen, ob die Tangled-Bank-Theorie mit den Tatsachen übereinstimmt. Er richtete sein Augenmerk weniger darauf, ob Tiere sich sexuell fortpflanzen, sondern darauf, wieviel Rekombination zwischen ihren Genen stattfindet. Sein Ansatz war relativ einfach: Er bestimmte die Zahl der Crossing-over-Segmente auf einem Chromosom.
Als Crossing-over bezeichnet man Chromosomenabschnitte, an denen zwei Chromosomen ihre Gene buchstäblich miteinander austauschen.
Burt stellte fest, daß die Rekombinationshäufigkeit bei Säugern in keiner Beziehung zur Anzahl der Nachkommen steht, nur wenig Beziehung zur Körpergröße und eine sehr enge Beziehung zum Zeitpunkt der Geschlechtsreife aufweist. Mit anderen Worten: Langlebige Tiere, die spät ihre sexuelle Reife erlangen, zeigen unabhängig von ihrer Größe und ihrer Fruchtbarkeit ein höheres Maß an genetischer Durchmischung als kurzlebige Organismen, die ihre Geschlechtsreife früh erlangen. Nach Burts Messungen verfügt der Mensch über dreißig Crossing-over-Abschnitte, Kaninchen über zehn und Mäuse über drei. Die Verfechter der Tangled-Bank-Theorie würden das Gegenteil voraussagen. 17
Die Tangled-Bank-Theorie gerät zudem in Konflikt mit Beobachtungen an Fossilienfunden. In den siebziger Jahren erkannten Evolutionsbiologen, daß Arten sich im Grunde nicht stark verändern. Über Tausende von Generationen hinweg bleiben sie unverändert und werden dann plötzlich durch andere Lebensformen verdrängt. Die Tangled-Bank-Theorie ist eine »Theorie der kleinen Schritte«. Wäre sie zutreffend, müßten Arten gemächlich durch den von ihnen bewohnten, sich fortwährend leicht verändernden Lebensraum driften und sich in jeder Generation ein wenig wandeln, statt über Millionen von Generationen einem Typ treu zu bleiben. Eine allmähliche Entfernung einer Art von ihrer ursprünglichen Gestalt geschieht auf kleinen Inseln oder in winzigen Populationen, und zwar aufgrund bestimmter Effekte, die zu einem gewissen Grad der Muller-Ratsche analog sind: zufällige Auslöschungen einiger Formen und zufälliger Aufstieg anderer mutierter Formen.
In größeren Populationen wird das verhindert, und zwar durch nichts anderes als durch die Sexualität. Sie ist die Ursache dafür, daß eine Neuentwicklung der gesamten Art zur Verfügung gestellt wird – und sich sofort in der Menge verliert. »In Inselpopulationen kann die Sexualität dies nicht so ohne weiteres bewirken, denn die
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