Eros und Evolution
irgendwohin zu gelangen scheint: »›Nun, in unserer Gegend‹, sagte Alice, noch immer ein wenig atemlos, ›kommt man im allgemeinen woandershin, wenn man so schnell und so lange läuft wie wir eben.‹ ›Behäbige Gegend!‹ sagte die Königin. ›Hierzulande mußt du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst. Und um woandershin zu kommen, muß man noch mindestens doppelt so schnell laufen!‹« 20
»Ein neues Evolutionsgesetz«, schrieb Van Valen und sandte sein Manuskript reihum an die prestigeträchtigsten Wissenschaftszeitschriften – um es postwendend zurückzubekommen. Aber sein Anspruch war berechtigt. Die Rote Königin ist zu einer geachteten Persönlichkeit am Biologischen Hofe avanciert. Und nirgendwo steht ihr Name höher im Kurs als bei den Theorien zur Existenz von Sexualität. 21 Theorien im Sinne der Roten Königin gehen davon aus, daß die Welt mit dem Tod um die Wette läuft. Sie ändert sich ständig. Aber haben wir nicht gerade eben gehört, daß Arten sich über viele Generationen hinweg statisch verhalten und sich nicht ändern? Jawohl. Der springende Punkt bei der Roten Königin ist, daß sie rennt, um am selben Ort zu bleiben. Die Welt kommt immer wieder dahin zurück, wo sie begonnen hat; es gibt Veränderungen, aber keinen Fortschritt.
Nach der Theorie der Roten Königin hat Sexualität nichts mit der Anpassung an eine unbelebte Natur zu tun – nichts damit, größer zu werden, besser getarnt zu sein oder Kälte oder Wärme besser ertragen zu lernen – sondern all das ist Teil eines Kampfes gegen einen Gegner, der zurückschlägt.
Biologen haben die Bedeutung physikalischer Ursachen für einen frühzeitigen Tod im Gegensatz zu biologischen Ursachen stets überschätzt.
In beinahe jeder Betrachtung zur Evolution gelten Dürre, Frost, Wind oder Hunger als die großen Bedrohungen des Lebens. Der große Kampf, so erzählt man uns, besteht in der Anpassung an diese Bedingungen. Wunder physischer Anpassung – die Höcker des Kamels, der Pelz des Eisbären, die kochfeste Zyste der Rädertierchen – werden zu den größten Leistungen der Evolution gezählt. Die ersten Evolutionstheorien hatten alle die Erklärung dieser Fähigkeit zur Anpassung an die physische Umgebung zum Inhalt. Doch mit der Tangled-Bank-Theorie hat sich ein anderes Thema Gehör verschafft, und es wird bei der Roten Königin sogar zum Leitmotiv. Was Tiere tötet oder daran hindert, sich fortzupflanzen, ist nur selten ein physikalischer Faktor. Sehr viel häufiger sind andere Lebewesen dafür verantwortlich – Parasiten, Räuber und Konkurrenten. Ein Wasserfloh, der in einem überfüllten Teich verhungert, ist nicht das Opfer mangelnder Nahrungsressourcen, sondern der Verlierer eines Konkurrenzkampfes. Räuber und Parasiten verursachen höchstwahrscheinlich, direkt oder indirekt, die meisten Todesfälle auf der Welt. Wenn ein Baum in einem Wald stirbt, so ist er in der Regel zunächst von einem Pilz geschwächt worden. Wenn ein Hering zu Tode kommt, dann meist im Maul eines größeren Fischs oder in einem Netz. Was hat Ihre Vorfahren vor zwei oder mehr Jahrhunderten umgebracht? Pocken, Tuberkulose, Influenza, Lungenentzündung, Pest, Scharlach, Durchfall. Hunger oder ein Unfall mögen Menschen geschwächt haben, aber gestorben sind sie an Infektionen. Ein paar von den Wohlhabenderen starben an Altersschwäche, an Krebs oder an Herzinfarkt, doch das waren nicht sehr viele. 22
Im Ersten Weltkrieg starben in vier Jahren fünfundzwanzig Millionen Menschen. Bei der darauffolgenden Influenza-Epidemie starben fünfundzwanzig Millionen Menschen in vier Monaten. 23 Sie war die letzte einer langen Reihe verheerender Seuchen, welche die menschliche Spezies seit Beginn der Zivilisation heimgesucht hatten. Europas Bevölkerung wurde im Jahre 165 nach Christus durch die Masern, im Jahre 251 durch Pocken, um 1348 durch die Beulenpest, um 1492 durch Syphilis und um 1800 durch Tuberkulose stark dezimiert. 24 Und dies sind nur die Epidemien. Örtlich begrenzt auftretende Erkrankungen forderten darüber hinaus ungeheuer viele Menschenleben. So wie jede Pflanze einem immerwährenden Angriff durch Insekten ausgesetzt ist, so enthält jedes Tier ein Gewimmel zahlloser hungriger Bakterien, die auf ihre Gelegenheit warten. Möglicherweise befinden sich in dem, was Sie stolz als »Ihren« Körper bezeichnen, mehr Bakterien als menschliche Zellen. Vielleicht befinden sich jetzt, in dem Augenblick, in dem Sie
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