Die Bleiche Hand Des Schicksals
1 Freitag, 26. Juni 1970
R uss Van Alstyne hatte gerade ein Reißen an seiner Angelschnur gespürt, als er sah, wie sich die alte Dame zwischen den Gräbern, die sie gepflegt hatte, erhob, ihre Gartengeräte niederlegte und in den Stausee schritt. Sie hatte ein winziges Familiengrab gesäubert, vier modrige Grabsteine, die sich unter dem Schutzdach schwarzer Kiefern duckten, so nahe am Ufer von Stewart’s Pond, dass die Bugwelle eines Motorboots die Steine hätte nass spritzen können. Sie war einige Zeit, nachdem er und Shaun ihr Ruderboot zu Wasser gelassen hatten, auf den Friedhof gekommen, und er hatte hin und wieder einen Blick zu ihr hinübergeworfen, während sie sich im Sonnenschein treiben ließen.
Sie hatten schon einige Stunden geangelt, hatten das warme Wetter, ein paar Biere und erstklassiges Gras genossen, das Shauns Bruder in Albany beschafft hatte, aber Russ hatte nur ein paar Sonnenbarsche erwischt, Köderfische, die er zurückwarf, sobald er sie vom Haken genommen hatte.
Deshalb setzte er sich aufgeregt auf, als seine Angelschnur sich spannte wie eine Klaviersaite und der Schwimmer unter der Wasseroberfläche verschwand. Er wusste, dass es ein guter Fang war. Vielleicht eine Forelle. Er hatte gerade seine Bierdose auf den Boden des Bootes gestellt und die Sicherung der Rolle gelöst, um dem Fisch mehr Leine zu geben, als er die alte Frau bemerkte. Sie hatte ein weites, bedrucktes Kleid an, ähnlich den Hauskitteln, die seine Mutter ständig trug, und es wallte um ihre Beine, als sie langsam ins Wasser watete.
»Shaun, guck mal«, sagte er, unsicher, ob er die Situation richtig einschätzte. »Was meinst du, was die alte Dame da macht?«
Shaun wandte den Kopf, wobei die Absolventenquaste mit herumschwang, die er an seinem Anglerhut befestigt hatte. Er verrenkte den Oberkörper, um besser sehen zu können. »Schwimmen?«
»In einem Kleid?«
»Find ich in Ordnung, Mann. Ich würde sie nicht im Badeanzug sehen wollen.« Shaun drehte sich um, kehrte dem Anblick der alten Frau, die ins Wasser schritt, den Rücken. Seine Leine ruckte. »Da beißt einer an.« Er entsicherte die Rolle und gab Schnur. »Keine Sorge, ich war schon mal mit dem Boot dort. Es geht ganz seicht rein.«
Mittlerweile reichte ihr das Wasser bis zur Brust, sie bewegte sich stetig voran, ohne die Arme einzusetzen oder unter die Oberfläche zu tauchen, wie man es beim Schwimmen tut. »Die schwimmt nicht«, sagte Russ. »Sie versucht es nicht mal.« Er sah an ihr vorbei zu dem überwucherten Pfad, der von dem kleinen Friedhof durch die Bäume hinauf zur Landstraße führte. Dort war niemand, der sie im Auge behalten hätte. Sie war allein. Er warf Shaun seine Angel zu und streifte die Turnschuhe ab. Schwimmend würde er sie schneller erreichen als mit dem Ruderboot. Er stand auf und brachte das kleine Boot heftig ins Schwanken.
»He! Bist du verrückt? Wir kentern gleich!« Shaun wirbelte auf seinem Sitz herum und sah gerade noch, wie das Kinn der alten Frau ins Wasser glitt. »Oh, Scheiße«, fluchte er.
Russ zerrte seine Jeans herunter und trat sie von den Beinen, wobei er die Bierdosen umwarf. Er balancierte mit einem Fuß auf der Bootswand und schwang sich ins Wasser. Selbst Mitte Juni war der Stausee kalt, noch gesättigt vom eisigen Schmelzwasser aus den Adirondacks. Sein Körper verkrampfte sich, aber er hielt auf das Ufer zu, mit langen, kräftigen Zügen, das Gesicht rhythmisch ins Wasser tauchend, so schnell, dass er sie aus dem Blick verlor. Er erreichte die Stelle, an der die Schatten der düsteren Kiefern das Wasser in Licht und Dunkel teilten. Er trat Wasser, drehte sich um sich selbst, suchte nach einer Spur von ihr. Sie war verschwunden.
»Sie ist da rüber«, gellte Shaun. Er mühte sich ab, das Ruderboot zu wenden. »Dorthin, ein paar Meter links von dir.«
Russ holte tief Luft und tauchte. Im tiefen Zwielicht des Sees konnte er sie gerade noch erkennen, ein bleiches Gespenst am Rand seines Blickfelds. Als er auf sie zuschnellte, trat sie aus der Düsternis hervor wie eine Fotografie, die entwickelt wird. Sie ging nach wie vor weiter nach unten, was der Grund war, warum es so unheimlich wirkte, ihre Zehen stießen gegen den kiesigen Grund, ihr geblümtes Kleid blähte sich, ihre weißen Haare trieben hinter ihr her. Sie ging immer weiter wie ein ertrunkener Geist, und dann, als könnte sie das Schlagen seines Herzens hören, drehte sie sich um und sah ihn an, die Augen weit geöffnet. Ihre Augen waren
Weitere Kostenlose Bücher