Eros
untersagt, dafür sei sie noch nicht
akkomodiert genug. Gymnastische Übungen werden bald wieder aufgegeben,
solcherlei Disziplin ist Inge nicht gegeben, dafür versucht sie sich erneut im
Gedichteschreiben, sogar in Prosa. Es wird nichts. Sie braucht irgendeine
Droge. Wenn nicht den Alkohol, dann die Hoffnung, wenn nicht die Hoffnung, dann
Arbeit. Eines von beiden, Erhebung oder Betäubung. Irgendeinen Sinn. Eine
Bestimmung. Die Nachbarn lassen sie weiterhin in Ruhe. Niemand klingelt und
fragt nach ihr. Die Nachbarn sind nicht blöd, haben mitbekommen, daß da etwas
Sonderbares läuft, irgendwas mit Stasi, dazu mußten sie nur Frau Schultzes
exquisite Lederstiefel beglotzen. Nachbarn in der DDR haben ein feines Gespür
für solche Dinge, und Frau Majorin hat es überdies mit gezielten Einzelgesprächen
drauf angelegt, die Nachbarschaft aus der Sache Inge Schulz weitgehend
herauszuhalten.
Mitte März fühlt sich Inge/Sofie zum ersten Mal als Gefangene, in
einem Tobsuchtsanfall zertrümmert sie ihren Kleiderschrank. Das geht so nicht.
Die Majorin drückt sich klipp und klar aus. Seltsam uneingeschüchtert schafft
Inge-Sofie es problemlos, sich noch ein Stück klarer auszudrücken. Ungebändigt,
völlig respektlos, brüllt sie Bedürfnisse hinaus.
»Ich kann doch nicht einfach nur rumsitzen!?«
»Wir werden sehen. Du bist aber auch eine schwierige Person!«
Während in der DDR meist das Prinzip der kollektiven Überwachung
gilt, der strengen sozialen Kontrolle, setzt das MFS, das Ministerium für
Staatssicherheit, im Fall Sofie Kramer auf Isolation. Einigen leitenden
Offizieren ist die Sache nicht geheuer.
Man vertröstet Inge Schulz einige Monate mit der Aussicht
auf eine passende Arbeitsstelle, die erst noch frei werden müsse. Hin und
wieder wird ihr ein Kuvert mit etwas Westgeld zugesteckt, damit sie auch mal
was im Intershop einkaufen kann.
»Kannste dich beklagen?« fragt Majorin Schultze bei solchen
Gelegenheiten streng, und Inge Schulz antwortet folgsam aber leise mit nein .
Ihre Gedichte und Prosaarbeiten stoßen auf erstes Interesse, sie
soll sie dem Vertrauensoffizier, wie die Bezeichnung nun lautet, zur Prüfung
vorlegen. Inge weigert sich nicht, ahnt doch, daß diese Texte längst überprüft
wurden. Mit simplen Tricks hat sie herausbekommen, daß die Wohnung regelmäßig
durchsucht wird. Ihre Texte erregen keinen Anstoß, werden ihr zurückgegeben,
ohne Kommentar. Jedoch wird sie darum gebeten, lieber kein Tagebuch zu führen.
Sie willigt ein und führt dennoch Tagebuch. Zuerst ohne besondere
Tarnung, dann, als die ersten Kladden einfach verschwinden, erfindet sie immer raffiniertere
Verstecke.
Fast alle diese Tagebücher sind erhalten, was bedeutet, daß alle
irgendwann aufgespürt wurden. Man kann anhand der Daten präzise sagen, wann sie aufgespürt wurden. Manche nach Wochen, andere erst nach vielen Monaten.
Den Frühling und den Sommer erträgt Inge einigermaßen, hält sich
viel an der frischen Luft auf und entwickelt ein zaghaftes Verhältnis zur
Natur, geht stundenlang im Park spazieren und füttert Vögel mit Haferflocken
und zerkleinerten Haselnüssen.
Im Herbst 77, der im Westen der »Deutsche Herbst« genannt
werden wird, als Hanns-Martin Schleyer, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und
Jan-Carl Raspe sterben und die Insassen des Fliegers in Mogadischu durch die
GSG-9-Einsatztruppe befreit werden, erkrankt Inge Schulz an schweren
Depressionen und erhält auf eigenes Verlangen Sedative, gegen die sie sich
allergisch zeigt.
Mit den politischen Entwicklungen kommt sie nicht klar, kann sie aus
der Entfernung nicht mehr einordnen, fühlt sich zur Ohnmacht genötigt. Anders
als im Fall Meinhof glaubt sie diesmal nicht an einen Selbstmord der
Stammheim-Gefangenen, glaubt vielmehr an eine staatliche Hinrichtung. Als
ebenso schlimm empfindet sie den ihrer Ansicht nach hysterisch gewordenen,
sinnlos-kindischen Terror der RAF.
Aufzeichnungen im Tagebuch zeigen psychotische Schübe.
19.10.77
Das Leben ist kurz, nicht? Kann einem lang werden. Wenn man warten muß.
Gibt doch gar keinen Grund dafür? Du bist der Grund. Von allem. Solltest
lächeln. Unser erstes Kind wär jetzt erwachsen wir würden Großeltern werden ich
würde Orgeln bauen und große Organisten würden darauf spielen du wärst stolz
auf mich. Man kann dir ja eigentlich nichts vorwerfen sie ist zu alt für uns –
und war ein so ängstliches junges Ding. Sie unterliegen ab sofort dem Strafrecht
der Dünnen Demokratischen Republik,
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