Eros
Pforte oder auf Toilette.«
Er übergibt ihr die Schlüssel für den Eingang und die Büros. Zeigt
auf das Telefon.
»Nur Ortsgespräche, logisch. Und jedes einzeln protokollieren mit
Begründung. Die Null ist gesperrt. Morgens um sechs kommt die Putzkolonne, und
der Tagespförtner übernimmt. Alles klar?«
Inge-Sofie kommt sich idiotisch dabei vor, diesen Posten zu
übernehmen. Aber, denkt sie sich, das kann das Ende der Fahnenstange nicht
sein. Sie wird parieren, wird das Vertrauen ihrer Vorgesetzten gewinnen und
irgendwann eine größere Aufgabe bekommen. Majorin Schultze ist längst zu einer
Art Freundin geworden, jedenfalls ist sie durchaus ein Mensch und weder streng
noch feindselig, es wird Spielraum für Verhandlungen geben. Die Hoffnung ist
geschwätzig und palavert bis zum Schluß.
Anfangs ist die Arbeit nicht unaufregend. Nachts mit der
Taschenlampe durch ein Museum, ein ehemaliges stolzes Gerichtsgebäude zu gehen,
kann Angstzustände erzeugen, die es zu bekämpfen gilt. Zweihundert der über
vierhundert Säle und Zimmer werden für die Bildende Kunst genutzt. Man hat zu
tun. Nicht lang, aber einige Wochen, bevor alles zur Gewohnheit wird. Inge
Schulz hört viel Musik aus dem Kofferradio, klassische Musik, die ihr zuvor
selten etwas gesagt hat. Besonders liebt sie das Violinsolo aus Dvořáks
Sinfonie Nr. 9 – »Aus der neuen Welt«. Das wird im Nachtkonzert auffallend oft
gespielt. Im Gegensatz zu früher trägt Inge-Sofie nun hohe Absätze, die klacken
hübsch laut in der nächtlichen Stille. Sie raucht mehr als früher. Sitzt auf
dem Klo, bei offener Kabinentür. Betrachtet sich im Spiegel über dem
Waschbecken. So hat sie sich ihr Leben nie vorgestellt. Die Mausefallen sind
Kokolores aus früheren Zeiten, gottlob. Hierher verirrt sich keine Maus.
Manchmal, zu passend-elegischer Musik, tanzt sie vor dem Spiegel,
langsam, wiegt sich, beide Füße auf dem Boden, mit geschlossenen Augen, wühlt
ihre Schultern durch ein zäh-imaginäres Meer, halb tanzend, halb schwimmend.
Sie muß an Boris denken, wie er im Blues-Tempo A Hard Days Night gesummt
hat. Der komische Kauz. Im Grunde die merkwürdigste Figur in ihrem Leben, bis
auf Alexander natürlich. Was die beiden wohl so machen? Mitunter, wenn ihr
danach ist, zieht Sofie sich aus und läuft nackt durch die Zimmer, nur blinde
Bilder sehen sie an. Bilder, desinteressiert, selbstgenügsam, umrahmt und
erhängt. Der riesige Parkplatz vor dem Museum, erleuchtet von wenigen Laternen,
den sie von einem Fenster im ersten Stock aus betrachtet, rauchend wider die
Vorschrift, bietet einen Hauch von Weite, von Landebahn und Bühne, dort unten
sammelt sich gegen Morgen der Nebel, manchmal streiten zwei Elstern. Oder
Krähen. Und der Nebel und der Rauch, im Winter ihr Atem, der die Scheibe
beschlägt, erstaunlich, der Nebel, der Atem, der Rauch, erstaunlich. Sie kann
in diesen Hallen nicht lange lesen, es ist, als läge zuviel Druck aus Stille
auf ihrem Nacken.
Ihre Einkäufe erledigt Inge-Sofie am frühen Morgen, zu müde, um
einen Mann kennenzulernen. Sie ist schlank und noch immer recht hübsch, sagen
die Spiegel. Es müßte so schwer nicht sein. Sie legt sich ein Aquarium an und
gibt ihr Erspartes im Intershop für einen kleinen Grundig-Farb-Fernseher aus.
Der erste eigene Fernseher. Sie notiert: Aktenzeichen XY gesehen. Spaß gehabt
statt Angst. Ein wenig. Spaß an der Angst. Paradox .
Zu Weihnachten erhält sie Geschenke in Form einer Flasche
rumänischen Rotweins und englischer Kekse aus dem Delikatladen, im Namen der
sozialistischen Solidarität überreicht von Majorin Schultze. Eine nette Geste,
die beweist, wie zufrieden man mit ihr doch ist.
Manchmal
möchte ich tot sein, aber noch alles überschauen dürfen, ohne mich darin.
Während der alljährlichen Buchmesse, wenn aus dem Westen Tausende
Besucher in die Stadt strömen, soll Sofie Urlaub nehmen und diesen in ihrer
Wohnung verbringen, sicher sei sicher.
Rät ihr Majorin Schultze.
Der finstere Wald
Ich hatte Dutzende Anwälte unter Vertrag, Spitzenanwälte,
aber auch unprominente, nur sehr gute, fleißige Anwälte linksbiographischer
Couleur, die sich um verhaftete Terroristen scheinbar selbstlos kümmerten, aus
idealistischen Motiven. Eine relativ biedere Variante, um aus dankbaren
Mandanten Informationen herauszukitzeln. Aber erst 1981, als andere denselben
Ausstieg gewählt hatten wie Sofie, wurde mir gezwitschert, daß sie eventuell drüben lebte, in der DDR, nur – unter welchem Namen?
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