Eros
damit wir uns verstehn. Das ist kein Traum
von mir. Die Kinder beginnen immer bei Null. Egal, was man erzählt. Das ist
kein Traum von mir! Sie lebt noch zuviel manche kriegen nie genug ich krieg
keine Luft keine Luft
Im Verlauf jener gewaltvollen Wochen gibt es ein Datum und
einen Satz, der ihr Leben nachhaltig verändert.
21.10.77
wir haben nach 43 tagen die klägliche existenz hanns martin schleyers
beendet.
Es ist dieser Satz, der mich zwingt, vom bewaffneten Kampf, selbst wenn
ich ihn jemals noch ausüben könnte, endgültig Abschied zu nehmen. Ein solcher
Satz dislegitimiert eine Sache für immer.
Es kommt zum dramatischen Zusammenbruch. Die Krankenakten
sind wohl beabsichtigt verloren worden, aber fest steht, daß Inge-Sofie nur
knapp dem Tod entrinnt. Nach einem Kreislaufkollaps wird sie zufällig gefunden
und notversorgt. Mundzumundbeatmung durch Majorin Schultze rettet ihr das
Leben.
Während eines vierwöchigen Krankenhausaufenthaltes erholt sich ihr
Körper von den allergischen Symptomen, es bleiben periodische
Lähmungserscheinungen zurück in Händen und Füßen. Was ihre Legende vom
Frühruhestand aufgrund motorischer Störungen noch glaubhafter erscheinen läßt.
Der behandelnde Arzt ermahnt die siebenundvierzigjährige, zweiundfünfzig
Kilo schwere Frau zu vitaminreicher Ernährung. Sie solle Gewicht zulegen und
mehr Fleisch essen.
»Und bitte Vorsicht vor Sedativen jeder Art. Verzichten Sie auf
Schlaftabletten und beim Zahnarzt lieber auf die Spritze. Auch wenns mal weh
tut.«
Dabei verzichten Zahnärzte in der DDR meist von sich aus auf
Spritzen.
Neue Depressionen sind die Folge. Inge-Sofie fühlt sich alt und
verbraucht. Nutzlos.
Majorin Schultze bemüht sich bei ihren Vorgesetzten seit
dem Spätsommer nachweislich um eine Arbeitsstelle für Inge-Sofie, die wieder zu
trinken begonnen hat, allerdings maßvoll. Ihre Tagesdosis überschreitet eine
0,7-Liter-Flasche Grauen
Mönch, einen süßlichen Weißwein, so gut wie nie. Die
Observierungen werden deutlich abgemildert. Ihre Wohnung durchsucht man nurmehr
sporadisch und hauptsächlich deshalb, um der Observierten das Gefühl zu geben,
sie sei noch wichtig. Majorin Schultze meint es gut mit ihrem Schützling.
Im Winter 77/78 tritt Inge-Sofie zur Arbeit im
Georgij-Dimitroff-Museum an, dem ehemaligen Reichsgericht, das als
Interimsgebäude für Leipzigs Kunstbestände dient. Ihr Haar trägt sie jetzt sehr
kurz, allzuviel Gewicht zugelegt hat sie nicht. Arbeitsbeginn ist um 21 Uhr,
Arbeitsende um sechs Uhr morgens. Vier Tage in der Woche soll sie hier Dienst
schieben. Ein Posten, der üblicherweise alten Männern vorbehalten und
genaugenommen kaum notwendig ist. Wer käme schon auf die Idee, nachts in dieses
Museum einzudringen und Gemälde zu stehlen? Und selbst wenn über Nacht die
Heizungen einmal ausfielen oder ein Fenster offen bliebe – der Schaden, der den
Bildern dadurch entstünde, wäre gering. Inge-Sofie sehnt sich nach Menschen,
nach Arbeitskollegen, ihr wird jedoch mit deutlichen Worten mitgeteilt, daß sie
diese Stelle zu akzeptieren habe und Ruhe geben solle. Ihr Einkommen steigt auf
800 Mark, was für niedere Angestellte wirklich nicht übel ist.
Ein greisenhafter Pförtner weist Sofie in seine alte, ihre neue
Arbeit ein. Zeigt ihr die gewaltigen Hallen. (»Lucas Cranach, Caspar David
Friedrich, Rubens, Frans Hals, Tintoretto. Wasse wollen! Über 2000 Gemälde! 800 Plastiken und 55.000 Handzeichnungen!«)
Und einen kleinen Tisch in der Kabine am Eingang. Mit Leselampe,
Telefon und Aktenablage.
»Nehmense sich viel zu lesen mit! Istn schöner Posten, gibt so gut
wie nix zu tun.«
Inge-Sofie hört es nicht gern.
»Zweimal Rundgang pro Nacht. Einer reicht im Grunde auch. Hier ist
noch nie ’n Zwischenfall vorgekommen. Die Mausefallen stellense abends auf und
entfernense am Morgen.« Er zeigt ihr das Logbuch.
»Sie sind hier nicht etwa der Sicherheitsdienst, das machen andere,
überwacht wird das Gebäude von außen. Sie sitzen im Grunde nur rum. Temperatur
prüfen, das ist alles. Schreibense morgens ins Buch: Keine Zwischenfälle – und
die Nacht ist wieder mal versorgt. Sei denn, es gibt Zwischenfälle, dann
schreibense eben was anderes. Ist bei mir aber nur zweimal in sieben Jahren
vorgekommen. Einmal ist ne Birne durchgeschmort, das andere mal gabs nen
Rohrbruch im Klo.«
»Bin ich ganz allein im Gebäude?«
»Na klar. Fürchtense sich etwa? Rauchen ist verboten. Schadet den
Bildern. Wenn Rauchen, dann in der
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