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Eros

Eros

Titel: Eros Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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Und der Minister, inzwischen deutlich angetrunken, schien keine
Lust zu haben, endlich von ihm abzulassen.
    »Wissen Sie, wo wir sind, Herr von Brücken? Wieviel Uhr wir es
haben?« Er fauchte es boshaft, doch auch mit einer Prise Verzweiflung in der
Stimme.
    In dieser Sekunde trat, überraschend und effektvoll, meine Mutter
durch die Tür des Wintergartens, bahnte sich einen Weg zwischen den Adjutanten
hindurch.
    »Ich glaube, Herr Minister, es ist spät geworden.«
    Es war äußerst mutig, wie sie es sagte, scharf und bestimmend. In
jenem Moment leuchtete sie. Alles an ihr war von Stil und Adel. Sie verwandelte
sich in eine Frau, die, wenn ich so sagen darf, ihren Schatten raffte und ihn
sich wie eine Stola um den Hals warf. Mir stand der Mund offen. Dem Minister
übrigens auch. Er überlegte und murmelte schließlich: »Ja. Das Leben ist kurz,
der Abend noch lang. Machen Sies gut, Herr von Brücken. Sie, Herr Keferloher,
bekommen demnächst neue Richtlinien. Schriftlich.«
    »Heil Hitler!«, brüllte Keferloher.
    Der Minister wandte sich an Mama. »Gnä’ Frau – mein Kompliment!
Danke für den Wein!«
    »Heil Hitler«, flüsterte, nein, krächzte mein Vater und ließ den Arm
wieder sinken, stierte vor sich hin, ein gebrochener Mann. Seit dieser Nacht
sah er kaum noch wem ins Gesicht, blickte an allen Menschen, mit denen er
sprach, vorbei.
    Dämmerung
    Der Winter brach herein. Am 22. November wurde
Deutschlands hervorragendste Renaissancekirche, die Michaelskirche, fast völlig
verwüstet, das prachtvolle Tonnengewölbe mehrmals durchschlagen, der Giebel war
eingestürzt, der Dachstuhl zerfetzt. Papa, völlig deprimiert, nahm mich mit, um
den Schaden zu besichtigen. Ich hatte mir geschworen, ihm ein guter Sohn zu
sein und mich für alles zu interessieren, was er mir erzählte. Leider blieb mir
die Kirche trotz besten Willens völlig egal und ich schämte mich dafür. Über
jene Monate gibt es wenig zu berichten. Manchmal saß ich am Teich, warf
Schneebälle hinein, sah sie schwimmen. Seltsamer Anblick, schwimmende Schneebälle,
wenn der Teich vereist und von den Schneebällen Kuppeln bleiben, wie Iglus in
der Wüste der Arktis. In der Mitte des Tennisplatzes klaffte ein Bombenkrater.
Näher ist uns ein Einschlag nie gekommen.
    Papa wurde schweigsam. Es gab gar Tage, an denen er sich zu rasieren
vergaß.
    Im Luftschutzkeller war alles wie sonst. Nur ohne Sofie.
Fürchterliche Nächte. Sofies Eltern wirkten stumpf und abgezehrt, ich bat
meinen Vater darum, ihnen dies und das zukommen zu lassen, er lehnte ab, er
könne nicht gewisse Arbeiter bevorzugt behandeln. Er hatte recht, die Menschen
litten noch keinen echten Hunger, es gab Brot und Kartoffeln genug, Sauerkraut
war über den Winter ein hervorragender Vitaminlieferant. Ihnen war einfach nur
jegliche Lebensfreude abhanden gekommen. Ich klopfte bei Sofies Freundin
Birgit. Ob es Sofie gut gehe, ob sie was wisse? Sie sei heil auf dem Land
angekommen. Mehr wisse sie auch nicht.
    Ob ich ihr schreiben könne?
    »Ich soll dir nicht sagen, wo genau sie ist. Kannst ja ihre Eltern
fragen. Wenn du dich traust.«
    »Kommt sie an Weihnachten heim?«
    »Blödian! Was du für Vorstellungen hast!«
    In der Abenddämmerung, beim Ende der zweiten Schicht, trieb ich mich
bei den Fabrikgebäuden herum. Sah den Arbeitern zu, wie sie die Hallen
verließen. Darunter waren Sofies Eltern. Der Vater hinkte, das fiel mir da zum
ersten Mal auf, er hustete auch. Ich wünschte Frau Kurtz einen guten Abend, so
im Vorübergehen. Als wäre es ein zufälliges Treffen. Drehte mich nochmal um und
sagte: »Apropos!« Ja, das genau war das Wort, das ich gebrauchte. Um noch beiläufiger zu klingen.
    »Ich wollte mich mal nach Ihrer Tochter erkundigen. Wies ihr geht.«
    Frau Kurtz war vor der Zeit gealtert, sie ähnelte eher Dürers Mutter
als der eines wunderschönen Wesens.
    »Sie sollten net unverschämt werden, junger Mann. Lassen’S das
sein.«
    Ich gab mich höchst verwundert. Was denn passiert sei?
    Und Vater Kurtz, in grob verrotztem Bayrisch, rief: »Schleich di!«
    Frau Kurtz versuchte, ihren Gatten zu beschwichtigen. »Sst! Johann!«
    Ihre Geste – sie packte seinen Arm und rüttelte daran – sollte wohl
bedeuten, daß ich der Sohn vom großen Chef sei, dem gegenüber er sich lieber
zurückhalten solle. Aber das hinderte sie nicht, gleich darauf mich am
Arm zu packen und zu rütteln.
    »Mir sind ja net dumm! Schauen’S meinen Mann an!« Immerhin siezte
sie mich. »Kaum laufen kann er

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