Eros
Betriebe um nochmal vier
Prozent angestiegen. Falls eine gute Nachricht gebraucht wird. Trinken wir eben
darauf. Und daß unsere Söhne im neuen Jahr wieder Tennis miteinander spielen
können.« Keferloher hob sein Glas.
Halt! Ich merke, daß sich hier meine Erinnerungen vermischen. Das
war gar nicht mehr das Weihnachtsfest, das war bereits Silvester. Ich sah auf
meine Armbanduhr. Sie besaß einen Sekundenzeiger!
»Hi-Hi-Hi!« Tante Hilde war eine ganze Woche bei uns zu Gast, es
fällt mir wieder ein, sie war übrigens die Schwester meines Vaters, aber nur
eine Halbschwester, Genaueres erfuhr ich nie, anscheinend gab es da eine
Familienepisode, über die zu sprechen vermieden wurde. Mir sagte man, daß mein
Großvater zweimal verheiratet war, ich denke hingegen, er ist es nur einmal
gewesen.
»Gleich ist es soweit.« Mama schaltete das Radio ein. Es liefen
Johann-Strauß-Walzer.
»Noch zwanzig Sekunden«, rief ich. Meine Uhr war verblüffend
präzise. Als beide Zeiger übereinander lagen, verkündete das Radio den Anbruch
des neuen Jahres mit einem langen Piepton.
»Prosit! Frohsneusjahr!« wünschten sich alle. Mein Vater stieß
schweigend mit den Gästen an. Das war das erste Mal, daß meine Schwestern einen
Schluck Alkohol trinken durften. Im Radio ertönte die Stimme des
Nachrichtensprechers. »Hier ist der Reichssender Berlin …« Papa schaltete das
Radio ab.
Tante Hilde: »Hi! Hi!«
Keferloher: »Herr Direktor?«
Papa reagierte erst gar nicht. Man erwartete ein paar Worte von ihm
zum neuen Jahr, wie an Silvester üblich. Er stand, sichtlich ungern, aus seinem
Plüschsessel auf. Plötzlich merkten wir, daß er betrunken war. Nach Worten
suchte.
»Deutschland … war sehr groß und schön. Alles hat zwei Seiten.
Dürer sieht auf euch herab!« Es war unheimlich. Er hatte Mühe, nicht zu lallen.
»Ja. Das neue Jahr. Neunzehnhundertfünfundvierzig. Es wird uns etwas bringen.
Sicher. Das ist fast unvermeidlich. Wir werden es alle mit Anstand hinter uns
bringen.«
Es herrschte bedrückte Stille. Aber wissen Sie was? Interessiert es
Sie, was ich in jenem Moment dachte? Ich hatte geliebt. Und liebte noch. Genau
das dachte ich, mit vollem, feierlichem Pathos. Soll die Welt doch
zusammenstürzen, verbrennen und verschwinden – ich hatte geliebt.
Nachts lag ich im Bett und – es mag lächerlich klingen – aber ich
versöhnte mich mit dem Leben, das mir alles, was notwendig war, gewährt hatte.
Meine Gebete galten Sofie. Möge das Leben sein Füllhorn über ihr ausgießen, wie
es mir zuteil geworden ist. So flehte ich das Schicksal an. Ja. Von mir aus
schreiben Sie es weniger gravitätisch, zeitgemäß sarkastisch, aber es war nun
einmal so.
Jeder besitzt in seiner Vita gewisse Altäre und Opferstätten, dunkle
Stellen, Patina, Spinnweb, Verdrängungskälte, ein eisiges Loch, ein tapeziertes
Vakuum, wo etwas nicht mehr wahr sein darf, weil es verloren ging. Jede Nacht
dachte ich an Sofie und stellte sie mir nackt vor, beim Baden in einem Fluß.
Ich sah, wie sie dem Wasser entstieg, wie ihre Knospen wuchsen im leichten
Wind, und ihre Haare naß im Nacken klebten, und sie bohrte den kleinen Finger
der rechten Hand in ihren Bauchnabel und schnippte das winzige Pfützchen weg,
ging in die Hocke, rieb mit einem Handtuch über ihre Oberschenkel.
Damit das aber klar ist: Der Traum wurde nicht sehr viel obszöner.
Mich in dieses Bild zu integrieren, wagte ich nicht. Immer blieb ich außen vor,
glücklich in stiller Betrachtung.
Was den Januar angeht, erinnere ich mich an nichts
Besonderes. Außer an eine öffentliche Beisetzung der Gefallenen des Luftkriegs,
ein Pflichttermin, auf den mein Vater mich erstmals mitnahm, ein pompöses
Ritual, vielleicht das letzte ungestörte seiner Art. Sehr beeindruckend.
Vertreter der Partei, des Staates, der Stadt, der Wehrmacht sowie die
Angehörigen säumten den geschmückten Platz vor der Aussegnungshalle, wo
zwischen hohen Feuerschalen die mit der Reichsflagge bedeckten Särge aufgebahrt
wurden. Wehrmachtsangehörige und politische Leiter hielten Ehrenwache, eine
weitere Ehrenwache im Viereck bildeten Ehrenkompanien des Heeres, der
Luftwaffe, der Waffen-SS und der Schutzpolizei. Giesler, der Gauleiter, und
Fiesler, Münchens Oberbürgermeister, sprachen Gedenkworte. Giesler und Fiesler,
ein Reim, der für unzählige Witze Nahrung bot. Nach dem Trauermarsch wurde der
riesige Kranz des Führers abgelegt. Übrigens galten nur Deutsche als Gefallene ,
ausländische Opfer wurden
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