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Eros

Eros

Titel: Eros Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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als Tote geführt.
    Im Februar gab es nur eine erwähnenswerte Episode. Ich habe sie
allerdings nicht selbst erlebt, sondern von Lukian erzählt bekommen. Stellen
Sie sich vor: Der alte Keferloher erhält den Einberufungsbescheid für seinen
einzigen verbliebenen Sohn. An Lukians sechzehntem Geburtstag.
    Keferloher, schwer erschrocken, denkt nach. Ruft seinen Sekretär.
»Schneider!« Ich glaube, er hieß Schneider. Ich bestehe nicht darauf. Wenn
Schneider zu abgegriffen klingt, nehmen Sie einen anderen Namen. Wo habe ich
meinen Kopf? Sie müssen ohnehin andere Namen wählen. Jedenfalls – Schneider
tritt ein, wird nach den heutigen Ausfällen gefragt. Fünfundzwanzig Arbeiter
haben sich krank gemeldet.
    Ob ansteckende Krankheiten grassieren?
    Schneider sagt nein, soviel er wisse, gäbe es keine ansteckenden
Krankheiten.
    »Und die Windpocken?«
    »Abgeebbt. Keine Fälle mehr seit Januar.«
    »Fragen Sie bei BMW nach. Und bei Krauß-Maffei.«
    Schneider macht ein blödes Gesicht. »Ob es noch irgendwo Windpocken
gibt?«
    Keferloher, als könne er die Notwendigkeit einer solchen Rückfrage
nicht begreifen: »Ja.«
    Um es kurz zu machen: Sie fanden ein fettes Mädchen, achtzehn Jahre
alt, die mit roten Flecken im Bett lag, die letzte Windpockenkranke in weitem
Umkreis. Es ging darum, ein paar Wochen herauszuschinden. Keferloher
verschaffte seinem Sohn drei davon. Er war ein bemerkenswert guter Vater. Den
Rest können Sie sich denken.
    »Mach!«
    Lukian: »Ich kann nicht«
    Keferloher: »Mach!«
    Lukian überwand sich und gab dem Mädchen einen Kuß. Einen richtigen.
    Das Mädchen, abgründig witzig: »Jetzt mußt du mich heiraten!«
    Die Eltern jenes Mädchens bekamen von Keferloher ein Paket mit Speck
und Schnaps überreicht. Lukian ist die Geschichte heute noch peinlich, aber
manchmal, wenn er etwas getrunken hat, erzählt er sie doch. Lustiger als ich.
Sie sind jung. Sie können nicht wissen, was für ein Wagnis da auf sich genommen
wurde. Für so etwas konnten im schlimmsten Fall alle Beteiligten auf dem
Schafott enden. Und ich meine alle . Aber es ging gut. Lukian wurde krank und seine
Einberufung um einen Monat verschoben.
    Dieser Schneider war allerdings ein Schwein, versuchte aus der Sache
Vorteile zu ziehen, teilte meinem Vater seine Wahrnehmungen mit, seinen
»Verdacht der gemeinschaftlichen Wehrkraftzersetzung«. Papa wies ihn barsch
zurecht – und ernannte ihn gleichzeitig zum Leiter eines Außenwerks. Es muß
Papa schwer gefallen sein, gegen seine Prinzipien zu verstoßen, jemanden ohne
Verdienst zu belohnen, aber das Prinzip der Loyalität gab es ja auch, und einen
Sechzehnjährigen vor dem Wehrdienst zu beschützen, der auch noch der Sohn
seines Vize war, das war für ihn eine Selbstverständlichkeit.
    Von da an wurde Keferloher recht zutraulich und sah in meinem Vater
gewissermaßen einen Freund.
    »Gestatten Sie ein offenes Wort?« So hörte ich Keferloher im
Wintergarten reden, Papa nickte kurz, die beiden gingen hinaus, um sich ohne
Zeugen zu unterhalten. Nur weil Schnee fiel, gingen sie nicht weit genug in den
Garten, ich bekam einiges mit, mein Atem beschlug die Scheibe und ich wurde
dahinter unsichtbar, preßte ein Ohr ans eiskalte Glas.
    »Der Krieg ist verloren.« Keferlohers Stimme zitterte. Mit dem, was
er da von sich gab, überäußerte er sich, sozusagen, dem Schicksal. Eine solche
Ansicht konnte ihn den Kopf kosten.
    »Sicher?«
    »Ja.«
    »Und?«
    »Wir könnten dem allen entkommen.«
    »Dem Krieg?«
    »Und dem, was danach kommt.«
    »Wohin?«
    »Irgendwohin. Irgendwohin.«
    Es entstand eine längere Pause, dann hörte ich die Stimme meines
Vaters, tonlos, resignierend. »Sie können tun, was Sie für richtig halten. Wir
sind jetzt alle ganz allein.«
    Das Nächste, an was ich mich erinnere, ist ein Gespräch
mit meinem Vater in irgendeiner Kirchenruine. Es war mitten am Tag, dennoch gab
es kaum Licht, nur ringsum fahle Dunkelheit. Mein Vater redete, und ich
erinnere mich seiner Worte mit enormem Hall unterlegt.
    »Ich habe dich so gewissenhaft erzogen, wie es mir möglich war.«
    »Ja, Papa.«
    »Ich weiß nicht, ob alles richtig gewesen ist. Ich glaubte es. Wenn
der Krieg verloren geht, wird vieles wohl falsch gewesen sein. Ich weiß nicht,
ob ich dir ein guter Vater gewesen bin.«
    »Bestimmt.«
    Das Gespräch war mir unheimlich und zugleich ein wenig peinlich.
Meinem Vater liefen Tränen über die Wangen. Wie konnte er sich so gehen lassen?
    »Ich liebe dich, mein Sohn. Ich liebe

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