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Eros

Eros

Titel: Eros Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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– und jetzt die Sonderschicht! Helfen hats uns
wollen, die Sof, mit Ihrenen fünfzig Mark. Aber wenn man mit so was anfangt,
weiß ich, wies nachat weitergeht. Sie hats erst net sagen wollen, wo sies
herhat. Dann habts ihr zwei die Flecken kriegt, daß gleich jeder in der Straß
drüber gredt hat. Kommens uns bittschön nimmer zu nah!«
    So war das also. Sofie hatte es für ihre Eltern getan. Schamrot bin
ich geworden. Und trotzig.
    »Ich will ihr doch nur schreiben.«
    »Nix mehr. Nix!«
    Die beiden ließen mich stehen. Ein Arbeiter schubste mich, einfach
so, das fand er gut, in den Schnee. Andere Arbeiter lachten. Ich war wütend,
rief halblaut: »Aber genommen habt ihr das Geld!«
    Sie dürften es wohl nicht gehört haben. Hoffentlich. So einfache
Menschen. Mir kam damals ein Gedanke: Manche Menschen sind nur auf der Welt, um
Kinder zu gebären, die anders sind, ganz anders.
    Dann kam das Weihnachtsfest. Bläuliches Licht, Klaviermusik. Die
Papageien spielten ein vierhändiges Stück, ich weiß nicht mehr, welches. Ein
neues Familienfoto wurde an die Wand der großen Treppe gehängt. Alle lächelten
wir darauf, nur Papa nicht. Kein Vergleich mit all den früheren, glücklicheren
Fotos. Dürer blickte traurig auf uns herab. Wir waren dabei ja nicht etwa
verarmt, unter materiellen Gesichtspunkten gab es nicht viel Unterschied zum
letzten Fest. Bei Anbruch der Nacht durften wir Kinder die Geschenkpakete
öffnen. Für die Schwestern gab es Kleider, für mich eine gravierte Armbanduhr.
Die Köchin deckte den Tisch.
    Der alte Alfred trug Gläser mit Zimt-Punsch auf. Man löschte das
elektrische Licht, zündete Kerzen an. Mutter und die Papageien sangen »Stille
Nacht, heilige Nacht«. Ich blies Posaune dazu. Mein Vater, in seinem geliebten
Plüschsessel, summte leise mit. Mir verging die Lust auf Musik, falsche Töne
mischten sich in mein Spiel.
    »Kind! Du kannst es doch! Einmal im Jahr!« rief Mama, aber mein
Vater winkte ab, sie solle mich in Ruhe lassen. Sehr sonderbar war das, legte
er doch gewöhnlich äußersten Wert auf Pflichterfüllung, vor allem, wo sie dem
Familienidyll diente.
    »Constanze, Cosima? Spielt ihr uns was Schönes?«
    Die Cocos setzten sich erneut ans Klavier, spielten eine Chaconne
von Bach. Sie gaben sich wirklich Mühe, und was geschah? Papa begann, mitten im
Vortrag seiner Töchter, vor sich hin zu reden. Meine Schwestern versuchten das
zu ignorieren, spielten tapfer weiter.
    »Gibt keinen Christbaumverkauf in der Stadt.«
    Meine Mutter legte eine Hand auf seine Schulter, er ließ sich davon nicht
beeindrucken.
    »Kein Glockenläuten. Keine Gottesdienste. Keine Christmetten.«
    Die Cocos brachen ihr Spiel irritiert ab. Man hörte ein blödes,
hohes Lachen, ein bizarres, fast gesungenes Hi-Hi-Hi. Das hätte ich fast
vergessen. Tante Hi-Hi-Hilde war zu Gast, eine alte, weißhaarige Frau. Manchmal
hatte sie noch klare Momente. Immer seltener.
    »Wir sind doch nie in eine Christmette gegangen«, sagte meine
Mutter. »Du wolltest ja nie.«
    »Die Kirchen sind alle unbenutzbar geworden. Un-be-nutz-bar …«
    Tante Hilde: »Hihihi.«
    »Ich war in der Stadt. Ich …« Papa stockte, wirkte erschüttert.
»Finsternis. Rabenschwarz. Vernagelte Fenster, überall Schutt, verkohlte
Balken …« Er machte uns Kindern Angst mit seinem Gerede.
    »Ist eben, wie es ist. Danken wir für das, was wir haben!« Mama
strich ihm durchs Haar, eine ungewöhnlich zärtliche Geste, wie sie noch vor
Monaten in unserem Beisein schwer denkbar gewesen wäre. Die Köchin meldete, der
Abendtisch sei angerichtet. Das Personal war dezimiert worden. Der Gärtner arbeitete
jetzt halbtags in der Fabrik, ebenso die Putzfrauen. Meine Erzieher war ich
auch los. Wer weiß, wo sie jetzt waren, welchen heiligen Dienst an Deutschland
sie verrichten mußten.
    Das Diner begann mit einer schlichten Kartoffelsuppe. Tante Hilde
fand überraschend vieles sehr lustig, immer wieder grellte ihr Hi-hi-hi durch
den Raum. Und was noch gespenstischer war: Mein Vater lachte leise mit. Gegen
neun Uhr kam Keferloher, mit seinem Sohn Lukian.
    Ich weiß nicht mehr genau, ob Volker, Keferlohers Erstgeborener, zu
diesem Zeitpunkt bereits gefallen war, ich glaube schon. Darüber redete man
nicht. Langstielige Gläser wurden ausgeteilt, zwei Flaschen Sekt geöffnet,
vielleicht sogar Champagner, der Unterschied war mir damals nicht bewußt, aber
unser Keller war noch voll, es könnte Champagner gewesen sein.
    »Im letzten Monat ist die Produktion unsrer

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