Eros
sehr voll. Der Fernseher konnte neunundneunzig Sender
empfangen, es gab etliche Lampen, aus denen man sich passende Lichtverhältnisse
herbeikombinieren konnte. Keferloher murmelte, ich könne mich mit all meinen
Wünschen an ihn wenden. Er wies auf eine Klingel hin, über dem Bett. Der Koch
würde mir jederzeit warmes Essen zubereiten, rund um die Uhr. In einem
unsinnigen Reflex anerzogener Bescheidenheit gab ich mich mit dem Vorhandenen
völlig zufrieden.
Erster Tag
»Neinnein, Sie müssen nicht hudeln. Schreiben Sie an dem
Buch, solange Sie wollen und müssen, ohne Rücksicht auf mich zu nehmen. Ich
werde es vermutlich, höchstwahrscheinlich sogar, nicht mehr lesen können,
leider, Sie haben dennoch mein vollstes Vertrauen. Ihr Honorar bekommen Sie in
jedem Fall, selbst wenn Sie nur leere Seiten abliefern sollten. Ich glaube,
unter diesen Bedingungen wird sich Ihr Stolz nicht allzusehr angegriffen fühlen
und man kann, ausnahmsweise, den Begriff vollstes Vertrauen wörtlich nehmen. Stimmts?«
Ich nickte. Was blieb mir übrig? Das angebotene Honorar übertraf
meine kühnsten Träume, würde mich mein ganzes Leben lang finanzieller Sorgen
entledigen. Von Brücken senkte die Stimme.
»Solange ich lebe, sind Sie sicher. Danach könnte es sein, daß …«
»Wie bitte?«
»Daß Sie Schwierigkeiten bekommen. Es wird Personen geben, die nicht
wollen … Lukian zum Beispiel. Er weiß, was Sie vorhaben, was wir vorhaben, und er heißt es nicht gut, glaube ich. Er würde es nie laut sagen,
aber, wenn ich erst tot bin, wird er mich beerben, wir haben diese Abmachung,
die ich einhalten muß und auch einhalten werde. Wenn ich also tot bin, könnte
es sein, daß ihm dieses Buch, selbst mit veränderten Namen, mißfällt, wegen der
Rolle, die ihm darin zukommt. Ich glaube nicht, daß er … naja, aber vielleicht
wird er versuchen, Ihnen das Buch abzukaufen, mit all dem Geld, das ihm dann
zur Verfügung stehen wird. Das könnte geschehen. Mein Vertrauen in Ihre
künstlerische Eitelkeit, vielmehr in Ihre künstlerische Lauterkeit, ist groß
genug, um diese Bedenken halbwegs zu zerstreuen. Dennoch sollten Sie lieber,
sobald Sie von meinem Tod erfahren, einen Ort aufsuchen, an dem man Sie nicht
so leicht, sagen wir, erreichen kann.«
Er wußte, daß alles, was er sagte, meine Neugier nur
vervielfachte, doch las ich in seinen Augen auch ernste Sorge. Nicht um mich,
vielmehr um das Buch. Um seine Geschichte.
Draußen war das Schneetreiben zum Stillstand gekommen. Hin und
wieder drang Sonne durch die Wolken und gab dem verrußten Saal ein behagliches
Flair aus schlaffen, leicht vergelbten Schatten.
Das Tonband lief.
Die letzten Tage des Eispalastes
Stellen Sie sich eine kurzgeschorene, sehr gepflegte Wiese
vor. Darauf ein Pavillon im pseudochinesischen Stil, darunter eine sehr
gepflegte deutsche Familie im Sonntagsstaat: Der Vater, die Mutter, ich, etwa
dreizehn Jahre alt, und meine Schwestern, die Zwillinge, drei Jahre jünger.
Dahinter ein großes Haus, eine große weiße Villa im Sonnenlicht. Es
ist hell, eine fast gleißende Helle umgibt jene Menschen. Man sitzt um einen
runden zartgrünen Marmortisch. Darauf stehen sechs Eisbecher mit Zitroneneis.
Es sind sechs Stück, weil Keferloher zu Gast ist.
Keferloher war es, der in dieser Sekunde unserer Allacher Villa, der
riesigen weißen Jugendstilvilla im Norden Münchens, den Namen Eispalast gab, scherzhaft, an jenem Augustnachmittag, an dem er mit meinen Eltern im
Gartenpavillon Zitroneneis zu sich nahm und die Farbe dessen, was er aß,
verglich mit der Farbe dessen, was er in der Sonne leuchten sah.
»Eispalast!« rief ich, trunken von dem schönen Wort, und meine
schwesterlichen Papageien griffen es mit ihren grellen Stimmchen auf:
»Eispalast! Eispalast!«
Cosima und Constanze hießen sie, benannt nach Komponistenwitwen. Ich
nannte sie meistens Coco Eins und Coco Zwei.
Keferloher war damals geschäftsführender Direktor in den Fabriken
meines Vaters, Fabriken für Metallverarbeitung und Vulkanisiermaschinenbau, die
ein Jahr nach Kriegsbeginn auf die Produktion von Rüstungsgütern aller Art
umgestellt worden waren. Mein Vater betrat die Gebäude so selten wie ungern und
ausschließlich zum Zweck der Repräsentation. Das Wort Fabrikbesitzer klang ihm
verhaßt, als Beruf gab er stets, sogar bei den Behörden, Architekt an. Ohne je
irgendwo ein Diplom abgelegt zu haben. Dennoch zu Recht. Wenn jemand für die
Architektur gelebt hat, war es mein Vater; die Frage, ob
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