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explodierten Wohnblock und auf der gegenüberliegenden Seite eine neue, noch im Bau befindliche, die auf ein im Entstehen begriffenes Geschäftsviertel hinausging. Als aktive Baustelle war diese schwer zugänglich, aber Olivia wusste, wie sie dorthin gelangen konnte, denn ihre Ausbilder in London hatten ihr eingetrichtert, dass sie immer alle möglichen Fluchtwege aus einem Gebäude kennen musste. Statt also den naheliegenden Ausgang vorne hinaus zu nehmen, den sie sich als eine knöcheltiefe Brandungszone aus Glasscherben vorstellte, machte sie kehrt und nahm den bereits ausgekundschafteten Fluchtweg durch den Baustellenbereich. Dieser änderte sich von Tag zu Tag, da die Arbeiter zwischen den verschiedenen Läden und Büros, die sie fertigstellten, immer woanders Absperrgitter errichteten und wieder wegnahmen. Heute allerdings hatten sie, als sie aus dem Gebäude geflohen waren, sämtliche Türen offengelassen, sodass Olivia eigentlich nur dem Tageslicht nachzugehen brauchte, während sie den Boden vor sich nach heruntergefallenen Nägeln absuchte.
Es gab keine. Im Gegensatz zu amerikanischen und europäischen Bauarbeitern schienen Chinesen fallen gelassene Nägel aufzuheben.
Und so gelangte sie hinaus auf die noch relativ intakte Seite des Gebäudes, das hier an den Rand eines von Menschenhand gemachten und durch Bauzäune abgeriegelten Kraters angrenzte, dessen Durchmesser mehrere hundert Meter betrug. Chinabesucher sprachen oft von einem »Wald von Kränen«, aber das hier ähnelte eher einer Savanne, da es im Wesentlichen freies Gelände war, über dem ein paar weit auseinanderstehende Baukräne aufragten. Seine natürliche Fauna waren Bauarbeiter, und gerade jetzt starrten zwei Dutzend von ihnen mit entsetzten Gesichtern grob in ihre Richtung.
Nein, sie starrten exakt in ihre Richtung.
Feministische Denkerinnen mochten mit Wertkonservativen darüber streiten, ob die tendenziell extreme Unsicherheit von Frauen im Hinblick auf ihre äußere Erscheinung ein natürlicher Wesenszug – das Ergebnis darwinistischer Kräfte – oder eine willkürliche, von der Gesellschaft konstruierte Gewohnheit war. Doch was immer ihr Ursprung sein mochte, Tatsache war, dass Olivia, als sie aus dem Gebäude herauskam und einen Haufen sie anstarrender fremder Männer vor sich sah, eine Unsicherheit verspürte, die ein paar Sekunden zuvor noch nicht da gewesen war. In Ermangelung eines Spiegels legte sie sich die Hände auf Gesicht und Haare und rechnete damit, dass sie staubbedeckt wieder herunterkämen. Sie kamen glänzend und rot herunter.
Ach du Schreck.
Olivia war keine, die leicht in Ohnmacht fiel, und sie bezweifelte, dass sie durch die Wunden eine nennenswerte Menge Blut verlieren würde. Die Stimme eines Erste-Hilfe-Ausbilders kam ihr wieder in den Sinn: Wenn ich Ihnen ein Schnapsglas Tomatensaft ins Gesicht kippen würde … Diese Männer würden jedoch eine blutende, barfüßige Frau nicht einfach allein auf die Straße gehen lassen. Zwei von ihnen rannten bereits auf sie zu, die Hände in einer Weise ausgestreckt, die unter normalen Umständen vollkommen unfein erschienen wäre. Was in einem westlichen Büro als feindselige Umgebung gegolten hätte, wurde bald lebendig, als zahlreiche starke Hände überall an ihr waren, sie auf einem Stuhl, der wie durch ein Wunder plötzlich da war, in eine bequeme Position brachten und ihren Kopf auf Beulen und Schürfwunden durchsuchten. Zu ihren Füßen wurden drei verschiedene Verbandskästen geöffnet; ältere und weisere Männer begannen unter dem Hinweis, das alles habe nur damit zu tun, dass sie ein hübsches Mädchen sei, Einwände gegen den verschwenderischen Gebrauch von Verbandsmaterial zu erheben. Ein besonders verwegener junger Mann rutschte auf den Knien zu ihr (er trug Hartschalenknieschoner) und zog ihr in einer Haltung, die an den Prinzen aus der letzten Szene von Aschenputtel erinnerte, ein Paar gebrauchte Flip-Flops an die Füße.
Genau in diesem halbstündigen Zeitfenster einen Krankenwagen zu bekommen, war völlig ausgeschlossen, sodass sie zwei Bambusstangen zwischen den Stuhlbeinen hindurch unter die Sitzfläche schoben, sie festbanden und das Ganze in eine behelfsmäßige Sänfte verwandelten, auf der Olivia wie eine jüdische Braut um den Rand des Kraters herum an eine Stelle getragen wurde, wo es möglich war, ein Taxi zu rufen. Der Stuhlritt machte Olivia Spaß, schon weil sie ständig an die Briten denken musste, die sie beim MI 6 ausgebildet und ihr
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