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sie sich, so gut es ging, und versorgte die Wunde mit einem weißen Mullstirnband, das fast als bewusst gewähltes, trendbewusstes Modeaccessoire durchgehen konnte, zumindest solange kein Blut durchsickerte. Sie löste ihr Versprechen ein, das Krankenhaus zu verlassen, und ging in ihren geschenkten Flip-Flops an den Kai hinunter, wo sie das von den Bauarbeitern geliehene Geld dazu verwendete, sich ein Fährticket zurück nach Gulangyu zu kaufen.
Bis dahin hatte sie die Rückverwandlung von Meng Anlan, der Karrierefrau, in Olivia Halifax-Lin, MI 6-Agentin, vollzogen. Auf der kurzen Überfahrt fragte sich diese mehrfach, ob es überhaupt richtig war, in ihre Wohnung zurückzugehen. Es bestand jedoch kein Grund zu der Annahme, dass das Büro für Öffentliche Sicherheit ihr schon auf der Spur war. Und falls doch , was konnte dann verdächtiger erscheinen, als dass sie nicht in ihre Wohnung zurückkehrte, obwohl sie so dringend frische Kleidung und Schlaf brauchte? Sie musste aus China verschwinden, so viel stand fest. Doch ohne Geld und Papiere würde sie von ihren Betreuern Hilfe anfordern müssen. Und da sie weder Handy noch Laptop hatte, würde sie dazu in ein wangba gehen und eine verschlüsselte Nachricht abschicken müssen.
Allerdings konnte sie ohne Ausweis in einem wangba kein Terminal mieten.
Den Schlüssel zu ihrer Wohnung hatte sie auch nicht. So musste sie nach einem zehnminütigen mühseligen Fußmarsch die steilen, gewundenen Wege von Gulangyu Island hinauf, noch dazu in diesen viel zu großen Flip-Flops, die keine Gelegenheit ausließen, ihr von den Füßen zu rutschen, den Hausverwalter ausfindig machen, ihn beim Abendessen stören und seine Frau dazu bewegen, ihr ihre Wohnung aufzuschließen.
Olivias übel zugerichtetes Äußeres beunruhigte die Frau. Im Laufe eines langen, höflichen Verhörs auf ihrer eigenen Türschwelle gelang es Olivia, sie davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung war und sie im Moment nichts anderes brauchte als absolute Ruhe. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, als blockiere sie den Eingang mit ihrem Körper, aber genau das tat sie. Körpersprache wirkte bei dieser Frau nicht, sodass sie sich dieser anderen Art von Sprache bedienen musste. Doch am Ende gewann Olivia die Oberhand und gelangte an einen Punkt, wo sie das Gefühl hatte, sie könnte, ohne beleidigend zu sein, die Tür zumachen und zweimal den Schlüssel umdrehen.
Aus dem Kühlschrank holte sie sich eine Flasche Wasser, aus der sie in kleinen Schlucken zu trinken begann, und aus dem Kühlfach eine Tüte gefrorene Baozi , riss sie auf und vergewisserte sich, dass ihr chinesischer »Meng Anlan«-Reisepass noch da war.
Das sollte natürlich nicht unter höhere Agentenkunst laufen. Kein Agent würde belastende, gefälschte Dokumente an einer solchen Stelle aufbewahren. Eine junge Frau dagegen, die keine Agentin war, könnte ihren echten Reisepass durchaus dort deponieren, um ihn vor gewöhnlichen Einbrechern zu schützen. Nun hatte sie zumindest die Möglichkeit, sich als Meng Anlan auszuweisen, auch wenn ihr Ausweis weg war.
Diese paar Schlucke Wasser hatten genügt, um ihre Nieren wieder in Schwung zu bringen, und so stellte sie die Flasche ab, ließ den Pass auf der Küchentheke liegen und ging ins Bad.
Kaum hatte sie es betreten, spürte und hörte sie, wie die Tür hinter ihr zugetreten wurde. Sie drehte sich um, direkt in eine auf sie zukommende weiße Wand hinein. Ein Kissen wurde ihr aufs Gesicht gedrückt, während eine Hand sie im Nacken packte. Sie schrie einmal auf, doch der Ton ging ins Nichts. Dann hörte sie eine ruhige Stimme an ihrem Ohr: »Geben Sie keinen Laut von sich. Haben Sie verstanden?«
Er sprach Russisch.
Sie nickte.
Das Kissen wich zurück, und sie sah sich in die blauen Augen des Mannes blicken, der einige Stunden zuvor in ihr Büro gekracht war; jetzt trug er allerdings einen Anzug, und er hatte sich den Kopf rasiert. Allem Anschein nach hier über ihrem Waschbecken, mit einem pinkfarbenen Damenrasierer, den er sich von ihr geborgt hatte.
»Ich bitte vielmals um Verzeihung«, sagte er.
Sie machte eine Geste, die Achselzucken, Nicken und Frösteln in sich vereinte.
»Wir haben nette Unterhaltung?«, fragte er auf Englisch.
Ihr Blick ging überall hin, nur nicht in seine Augen.
»Ich weiß, Sie sind Agentin«, sagte er, vorerst beim Englischen bleibend; vielleicht war er sich ihrer Beherrschung des Russischen nicht sicher.
Jetzt sah sie ihm doch in die Augen. Sie
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