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Westen verlief. Das war nicht weiter verwunderlich, da die bevölkerungsreichen Zentren der Insel an ihren breiteren Enden im Osten und Westen zu liegen schienen, und die verschiedenen Straßen, die sie miteinander verbanden, quetschten sich zusammen durch die schmale Taille der Insel, die Olivia und Sokolow gerade durchquerten: ein mit Bäumen wie mit Federbüschen versehener Felsrücken, dessen höchster Punkt mit den geodätischen Kuppeln von Radareinrichtungen aus dem Kalten Krieg gespickt war.
Diese Gegend war eindeutig ländlicher als das Festland, das ein paar Kilometer weiter jenseits des Wassers aufragte. Jedenfalls nach chinesischen Maßstäben. An keinem Punkt waren sie außer Sichtweite eines Gebäudes. Radfahrer kamen allein oder zu zweit an ihnen vorbei und beäugten sie neugierig. Olivia war geneigt, sie zu ignorieren und weiterzutrotten, während sich Sokolow sichtlich unwohl fühlte. Nachdem sie die zweite Ostwestverbindung überquert hatten, bemerkte er ganz in der Nähe einen dicht von Bäumen bestandenen Wasserlauf, zu dem er sie hinunterführte. Es war eine Art Entwässerungsgraben oder kanalisierter Bach, der in einem gewölbten Durchlass aus Stein unter der Straße durchfloss. Bevor Sokolow ganz in dem Laubwerk verschwand, das sein Ufer säumte, sah er sich noch einmal gründlich in dem flachen Gelände um. Sie waren vollkommen ungeschützt.
»Guter Treffpunkt«, sinnierte er.
Olivia sah zwei Seiten in der Offenheit des Geländes: Jeder konnte sie schon aus der Ferne sehen, aber aus dem gleichen Grund konnte sich auch niemand an sie anschleichen.
Nicht einmal halb so schnell, wie sie in freiem Gelände vorwärtsgekommen wären, folgten sie dem Wasserlauf fast einen Kilometer weit nach Süden und hügelaufwärts, bis das, was bisher ein schmaler Baumstreifen gewesen war, sich zu einem Wald ausweitete, der schließlich in der dichten, sich über die zentrale Kammlinie der Insel erstreckenden Baumdecke aufging.
In der vergangenen Nacht hatten sie ihr gesamtes Trinkwasser aufgebraucht, und durch Sokolows Vorsichtsmaßnahmen waren sie nicht einmal in die Nähe eines Ortes gekommen, an dem sie welches hätten kaufen können. »Langsam trockne ich wirklich aus«, bemerkte Olivia irgendwann, und Sokolow drehte sich um und bedachte sie mit einem merkwürdigen Blick. Sie beschloss, sich nicht weiter darüber zu beklagen.
Die Lage des Flughafens war jetzt klar ersichtlich, da sie aus dieser Höhe ein Flugzeug im Landeanflug sehen konnten, das schließlich hinter der Kammlinie verschwand. Olivia blickte auf die Uhr und stellte fest, dass das der 10.45-Uhr-Flug aus Taipei war. Ihr Braves-Mädchen-Instinkt sagte ihr, dass sie auf der Stelle dort hinuntergehen musste, um ihre Kontaktperson mit ihrer Pünktlichkeit zu beeindrucken. Sokolow wollte davon jedoch nichts wissen. »Er wird warten«, betonte er.
»Aber …«
»Du bist nicht hier, um ihm einen schönen Tag zu bescheren.«
Das konnte Olivia kaum bestreiten.
Sokolow übernahm das Handy, und Olivia sah ihm eine Weile über die Schulter, während er die Karte studierte. Er brauchte ihre sprachliche Hilfe, um das Fährterminal der Insel zu lokalisieren, wo nach einem festen Fahrplan Fähren aus Xiamen anlegten. Sie fand es an der südwestlichen Spitze der Insel. Die offensichtlichste Strecke von dort zum Flughafen führte wohl an der breitesten von Kinmens Ost-West-Verbindungsstraßen entlang, die sie noch nicht gekreuzt hatten, da sie die südliche Seite der Kammlinie durchzog.
Sie waren nur etwa einen Kilometer – tausend große Schritte – vom Flughafen entfernt. Dennoch bestand Sokolow darauf, dass sie in östliche Richtung – also weg von dem Fährterminal – durch das schlimmste Gelände gingen, das er finden konnte, wo nötig über kleine Bergstraßen huschend, bis sie in Sichtweite einer großen Straßenkreuzung kamen. Sokolow fand eine Stelle, wo er diese aus der Deckung heraus beobachten konnte, und schickte Olivia allein hinunter, darauf beharrend, dass sie auf einen Bus wartete, damit sie den Flughafen »wie ein normaler Mensch« betreten konnte. »Wir sehen uns an Treffpunkt«, sagte er.
»Wann?«
»Wenn du dort bist.«
Olivia versuchte ein letztes Mal, sich halbwegs präsentabel zu machen, wartete, bis die Luft rein war, und trat dann zwischen den Bäumen hervor, eine vier Meter lange blühende Ranke an einem Knöchel hinter sich herziehend, bis sie sich davon losgemacht hatte. Der Bus kam fünfundvierzig Minuten später an
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