Error
genommen hatten, bestand kein Zweifel mehr daran, dass sie irgendwo, und zwar bald, Land erreichen würden. Aus der Bucht kamen sie schon jetzt nicht mehr heraus, selbst wenn sie es versuchten. Denn die Szélanya war nicht als Segelschiff konstruiert. Sie war erst vor knapp zwei Wochen eins geworden, aber nur insofern, als jeder schwimmende Gegenstand, dem ein anderer Antrieb fehlt, windgetrieben ist. Sie tatsächlich in etwas zu verwandeln, das segelte, hatte vielerlei Versuch und Irrtum bedurft; hauptsächlich Letzteres.
Das Schiff war reichlich mit Plastikplanen ausgestattet, doch sie hatten sehr bald festgestellt, dass diese den Belastungen, denen der Wind sie aussetzte, nicht gewachsen waren. Fischernetze waren sehr viel robuster, hielten aber die Luft nicht. Also hatten sie durch eine Kombination aus beiden Segel improvisiert: Fischernetze auf Planen gelegt und sie mit Kabelbindern, Klavierdraht, Nadel und Faden, Klebeband zusammengefügt. Der so entstehende Materialverbund war kräftig genug, um dem Wind standzuhalten, doch die Ränder und Ecken – an denen die Kraft des Windes auf Leinen übertragen werden musste, die am Schiff befestigt waren – rissen bei jeder nennenswerten Brise aus. Also war im Zusammenhang mit diesen Rändern sehr viel mehr Lern- und Improvisationsarbeit nötig geworden. Die Ergebnisse waren alles andere als schön, aber es war lange Zeit nichts ausgerissen. Erst nachdem sie dieses Problem gelöst und an den Rahen und dem Takelwerk, die der Bedienung der Fischernetze dienten, ihr erstes kleines Segel gehisst hatten, hatte ihr Ingenieur eine Bierflasche aus den Schiffsvorräten geholt, sie zur Bestürzung seiner Offizierskollegen am Bug des Bootes zerschmettert und es auf den Namen Szélanya , »Mutter des Windes«, getauft. »Falls ein solches Wesen existiert«, erklärte er, »ist sie vielleicht geschmeichelt und beschließt, uns nicht komplett fertigzumachen.«
Die Straße von Taiwan verlief von Nordosten nach Südwesten. Wie sie in den ersten Stunden ihrer Fahrt gelernt hatten, durchfloss sie eine stetige Strömung, die sämtliche Kurse südwärts krümmte. Und wie sie in den ersten paar Tagen gelernt hatten, wurde diese Strömung kräftig von den vorherrschenden Winden unterstützt, die mit beständiger Heftigkeit aus Nordosten wehten und sie die Straße hinunter aufs Südchinesische Meer schoben.
Der Skipper war bis zu dem Tag, an dem das Abenteuer begann, außer auf Passagierfähren noch nie auf einem Boot gewesen. Gleichwohl hatte er sich in den kritischen ersten achtundvierzig Stunden mit einer Geschwindigkeit und Geläufigkeit, die der Ingenieur als beinahe übernatürlich empfand, die Beherrschung der grundlegenden Segelprinzipien angeeignet. Ganz ähnlich wie ein Teenager, der ein neues Computerspiel spielt, ohne sich die Mühe zu machen, das Handbuch aufzuschlagen, probierte er dies und das und beobachtete, was dabei herauskam, verwarf alles, was nicht funktionierte, und machte sich aggressiv daran, kleine Erfolge auszunützen. Eine Fülle von Ideen entsprang seinem Verstand. So etwas wie eine schlechte Idee gab es offensichtlich nicht. Aber – und vielleicht noch wichtiger – so etwas wie eine gute Idee gab es auch nicht, bis sie erprobt und kühl bewertet worden war. Es wurde klar, wie er es zu Hause zum Anführer einer Art Gang gebracht hatte: nicht durch Geltendmachen seines Führungsanspruchs, sondern indem er so unaufhörlich Ideen produziert, bewertet und genutzt hatte, dass seinen Freunden gar nichts anderes übriggeblieben war, als sich in seinem Kielwasser zu formieren. Sobald er und seine Offizierskollegen Segel gebaut hatten, die nicht sofort wieder auseinanderfielen, und sobald er gelernt hatte, das Schiff dazu zu bringen, dass es mehr schlecht als recht segelte, hatte der Skipper begonnen, einige der Karten zu studieren, die die früheren Besitzer des Schiffes auf der Brücke zurückgelassen hatten. Nachdem er mittels GPS einige grobe Berechnungen angestellt hatte, schätzte er, dass sie, wenn sie sich einfach Wind und Strömung überließen, in einigen Wochen in Malaysia oder Indonesien Land sichten würden. Gegen den Wind zu kreuzen oder auch nur im rechten Winkel zum Wind zu segeln käme angesichts der primitiven Takelage, die sie aus an Bord gefundenen Gegenständen improvisieren konnten, nicht in Frage. Doch der Ingenieur, der über Segelerfahrung auf dem Plattensee verfügte, glaubte, dass sie sich durch Setzen eines Segels im richtigen Winkel und
Weitere Kostenlose Bücher