Erschiess die Apfelsine
zum Teufel halten die Leute das nur aus? Alle latschen immer weiter, murmeln und blinzeln, nur graue Gesichter, schlaff und schlurfend. Alle scheinen es schwer zu haben. Und alle geben sich damit zufrieden, keiner stellt irgendwelche Anforderungen. Ich kann vor mir sehen, wie es weitergeht, ein langer Korridor mit flackernden Leuchtstoffröhren und kahlen Betonwänden, keine Fenster, nur die abgestandene Luft von all den Jahren mit festgelegten Stationen. Drei Mahlzeiten am Tag, einmal Scheißen, zwei Stunden vor dem Fernseher und acht Stunden Schlaf. Tagein, tagaus. Zuerst das Gymnasium, dann die Universität, dann an einem Arbeitsplatz hocken bis zur Rente. Genügt das zum Leben, hat das einen Sinn? Doch, für die meisten offenbar schon. Sie trotten weiter voran in langen Schlangen, lecken jeden Arsch, der sich ihnen bietet, und bewegen sich langsam den Korridor entlang voran, bis sie vor einer Ziegelwand enden, und da kriegen sie einen Schlag auf den Schädel, brechen zusammen und werden auf einem Fließband abtransportiert.
Mama gehört zu diesen Korridorlatschern. Krankenschwester mit schlechten Arbeitszeiten, während die Jahre vergehen und die Falten zulegen. Sie ist so eine Pflanze, die nie blühen durfte, nur jede Menge sperrige Blätter hervorgebracht hat. In regelmäßigen Abständen versucht sie sich zu verändern, so heißt das unter ihren Freundinnen, die genauso unzufrieden und mittelalt sind. Dann starten sie ein Projekt. Letztes Jahr wollte Mama Spanisch lernen. Sie ging zur Volkshochschule, vier-, höchstens fünfmal, dann gab sie wieder auf. Ein anderes Mal ging es um Töpfern, da quoll unsere Wohnung von Tontöpfen und Krügen über, die beim Abwasch nach und nach zerbrachen. Oft geht es ums Gewicht. Mama ist nicht dick, vielleicht ein bisschen rundlich, aber eines Tages beschließt sie, nur noch Früchte zu essen. Morgens, mittags, abends, eine ganze Woche lang dauert die Obstdiät. Mit der Zeit wird ihre Laune immer schlechter, und zum Schluss verschlingt sie einen ganzen Käse und heult. Ein anderes Mal will sie Fisch essen. Nichts anderes mehr. Keine Kartoffeln, keine Sauce, das bekomme ich, aber dann nimmt sie sich doch eine halbe Kartoffel, nur um zu probieren, und dann noch eine und noch eine, bis der ganze Topf leer ist und sie neue kochen muss.
Dann wieder soll ihr Äußeres verändert werden. Blonde Haare, braune Haare, mit Henna gefärbt, Locken, alle halbe Jahr etwas Neues. Manchmal ist es auch die Naturmedizin. Tees, Dampfbäder, Kieselsäure und Pillen. Letztes Jahr wollte sie, dass ich Lebertran schlucke, das nach verrottetem Seehund riecht. Sie versuchte die Tropfen in die Salatsauce zu schmuggeln, gab aber schließlich auf, als ich alles durchs Klo spülte. Dann wieder gibt es Mängel in der Ernährung, die mit Tabletten behoben werden müssen, mit Selen, Antioxidantien oder hämoglobingebundenem Eisen. Auch dagegen habe ich mich gewehrt, obwohl sie mit Krebs gedroht hat.
Einmal hat sie mich gezwungen, Yoga und Atemübungen zu machen. Das war in der Achten, als sie der Meinung war, dass es in der Schule zu schlecht lief, wir mussten eine halbe Stunde früher aufstehen und vor dem Frühstück unsere Übungen absolvieren. Dazu saßen wir jeder auf einer Matte und hörten unsere Mägen knurren, bis ich aufgab und alles hinschmiss. Irgendwann zu der Zeit ging meine Kindheit zu Ende. Sie versuchte mich zurückzuholen, aber ich stellte fest, dass ich stärker war.
Aber am schlimmsten ist es, wenn sie für mich denkt.
»Du machst nichts aus deinem Leben«, behauptet sie dann.
»Ich möchte, dass niemand sonst etwas aus meinem Leben macht«, erwidere ich dann.
»Hast du nicht den Ehrgeiz, etwas aus deinem Leben zu machen?«, fragt sie mit gerunzelter Stirn nach.
»Wenn ich das will, werde ich es schon tun, aber im Augenblick will ich es nicht.«
»Eigentlich solltest du Arzt werden.«
Ich sollte meine Mutter häufiger davor warnen, nicht die Realität aus den Augen zu verlieren. Alle um uns herum sind auf diesen Bluff hereingefallen. Alles ist Theater, nichts ist echt. Bin ich tatsächlich der Einzige, der so denkt, der das Schauspiel durchschaut hat? Bin ich der Einzige auf der Welt, der es begreift? Und trotzdem tue ich nichts. Ich trample in derselben Schlange wie alle anderen vor mich hin, ob nun im Putzkittel oder nicht. Ich gehöre nicht hierher. Wie haben sie mich genannt, ein Ufo? Vielleicht sollte ich die Welt verlassen?
Es war etwas ungewohnt in der Mittagspause, dass
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