Erschiess die Apfelsine
niemand mich verhöhnte. Auf dem Weg zurück ins Schulgebäude machte ich einen Umweg, wusste selbst nicht, warum. Kam zum Kunsttrakt und ging hinein.
Eine Saaltür wurde aufgeschlagen, und eine Schar Elstern, Hexen und Bleichgesichter rauschte an mir vorbei. Ich hatte die Kunstschüler schon immer heftig gefunden. Wir von den Naturwissenschaften schauten auf sie hinab, nahmen sie nicht für voll. Die taten immer so künstlerisch und tiefsinnig, aber im Grunde genommen hatten sie nur zu schlechte Noten, um in die normalen Zweige zu kommen. Bei den Kunstschülern, da landete der Abschaum, der Schrott. Dort wurde am meisten geschwänzt. Die Schüler entschieden sich für den Kunstzweig, damit sie etwas zu tun hatten und Stipendien bekamen, aber meistens hingen sie nur am Fahrradständer herum und rauchten, in ihre Lumpen gehüllt, die Haare bis zum Arsch und kiloweise Ringe und Piercingkugeln im Gesicht. Nur ausnahmsweise gingen sie mal zu ihren sogenannten Lektionen, in denen sie Trommel spielten und grölten, dass es in der halben Schule zu hören war, oder sie übten ein sogenanntes Stück, das sicher schon vierzig Jahre alt war, eines über Eheprobleme, und dann zwangen sie den Rest der Schule, es zum Schuljahresende mit zu durchleiden. In Wahrheit verplemperten sie die Gymnasialzeit, keiner von ihnen würde Schauspieler oder Künstler werden. Dazu waren sie zu schlecht und zu faul. Sie brannten nicht. Ein Künstler, der muss glühen, Leidenschaft zeigen, verdammt noch mal. Sie glaubten, es sei mit einem schwarzen Lippenstift oder dem Pulen von Fusseln aus dem Bauchnabel getan. Der Kunstzweig, das war eine Müllhalde für zukünftige Arbeitslose, und sie waren mir scheißegal. Die Einzigen, die ich vielleicht noch in Ordnung fand, das waren ein paar Musiker, maximal ein oder zwei in jedem Jahrgang, die elektrische Gitarre spielen konnten, dass man schon beeindruckt war.
Ich blieb vor dem Schwarzen Brett der Kunstschüler stehen, ein paar Blätter hingen dran. Es waren offensichtlich Gedichte. Handgeschrieben natürlich, keiner von denen war in der Lage, so etwas auszudrucken:
Meine Finger kritzeln an die Zementwand
Meine Lippen schreien in der Nacht
Mein Herz murmelt von den Tränen des Krieges
Haha. Ich musste grinsen. Finger konnten doch nicht kritzeln, sie brauchten einen Filzstift dafür. Und Lippen konnten nicht schreien, das waren nur stumme Fleischfetzen um eine Mundöffnung herum. Und ein murmelndes Herz, welche Sensation, das müsste man ja verdammt noch mal im Zirkus zeigen.
Immer noch grinsend ging ich weiter.
»Na, so was«, hörte ich.
Eine fröhliche Stimme. Etwas verwundert, aber in erster Linie fröhlich. Sie kam viel zu schnell auf mich zu. Ich war überrumpelt, schaltete nicht schnell genug, das Mädchen ging an mir vorbei, bevor ich etwas hatte erwidern können. Und nachdem ich nicht sofort etwas gesagt hatte, war es schon zu spät, ich konnte ihr ja nicht zehn Sekunden später »Hallo« hinterher rufen. Stattdessen ging ich mit meinem Pokerface hölzern weiter meines Weges.
Sie war es gewesen. Das Mädchen mit den grünen Augen. Der der Putzkittel gefallen hatte, die Einzige an der ganzen Schule, die mich nicht angerotzt hatte.
Jetzt dachte sie bestimmt, dass ich eingebildet war. Ich hatte zu langsam reagiert, jetzt war der Patzer passiert. Hätte nicht sein müssen. Aber zu spät, um etwas dran zu ändern. Noch dazu, wo sie eine der Kunstschüler war, obendrein noch eine der Elstern. Mit magerem Gesicht und knochigen Schultern, und dann das schwarz gefärbte Haar, das so künstlich aussah. Aber die Augen waren schön. Oder vielleicht nicht direkt schön, aber außergewöhnlich. Was natürlich auch nur an gefärbten Kontaktlinsen liegen konnte. Aber Hallo hätte ich zumindest sagen können. Scheiße. Jetzt glaubte sie sicher, ich wäre arrogant. Einer der Arschgeigen.
Als ich mir in der großen Pause am Nachmittag etwas zu trinken holen wollte, passierte etwas Ungewöhnliches. Auf halbem Weg kam ich an den Toiletten vorbei und hörte plötzlich drinnen lauten Krach. Ich öffnete die Tür und schaute hinein.
An der Pissrinne stand Pålle. Mit knallrotem Kopf schwenkte er drohend den Handtuchhalter vor sich her. Ihm gegenüber standen Schweinsköpfe aus dem dritten Jahrgang in Angriffsstellung.
»Ich werde dich zerquetschen!«, schrie die Schweinefresse.
»Uuäää!«, johlte Pålle.
»Du Scheißschwuchtel.«
»Oouäääh!«
»Verschwinde von dieser Schule. Fahr zur
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