Erschiess die Apfelsine
unsicher wurde, sie ging ein Stück vor, blieb stehen, ging dann wieder weiter. Schließlich zog auch sie ihr Handy heraus und machte ein Foto. Aber der Text war viel zu breit, er passte nicht in die Linse. Noch ein Foto. Und noch eins. Anschließend eilte sie in ihr Büro.
Ein sehr dicker Herr mit Kameratasche stand plötzlich zwischen uns. Er holte so ein digitales Aufnahmedingsbums heraus und legte los:
»Hey, Leute, ich bin von der Länstidningen. Was haltet ihr von dem Ganzen hier? Wisst ihr, wer das gemacht hat?«
»Die Schulleiterin hat angefangen«, sagte ein Kunstschüler. »Sie hat eines unserer Gedichte abgerissen.«
»Euer Gedicht?«
»Ja, vom Schwarzen Brett in unserem Trakt.«
»Das hing dann in der ganzen Schule«, stimmte ein langer Lulatsch zu. »Aber der Hausmeister ist herumgerannt und hat alles abgerissen.«
»Dann ist das hier also ein Protest? Kann ich das so schreiben?«
Mehrere nickten.
»Aber was ist die Botschaft?«, fragte der Journalist weiter. »Bombardier den Dreck, Bomben auf die Gehirne. Das Runde soll ein Herz werden?«
»Poesie«, erklang eine Mädchenstimme.
»Was?«
»Das ist ein Gedicht. Poesie. Man kann selbst entscheiden, was es bedeuten soll.«
»Dein Name?«
»Lavendel Johansson.«
Da stand sie. Mir wurde innerlich ganz wabbelig.
»Und woher weißt du, dass es ein Gedicht ist?«, fuhr der Journalist fort. »Kennst du denjenigen, der es geschrieben hat?«
»Ich denke schon«, sagte sie.
Mein Herz setzte fast aus. Ich konnte mich kaum rühren.
»Wer ist es denn?«, fragte der Journalist.
»Ich sage keinen Namen. Aber er geht in meine Klasse.«
Überall wurde darüber spekuliert, wer wohl gesprayt hatte. Die Kunstschüler waren die Hauptverdächtigen, obwohl doch alle, die ihre Gedichte gelesen hatten, sehen mussten, wie erbärmlich sie im Vergleich waren. Bald waren überall in der Schule wieder handgeschriebene Zettel zu finden. Bombardier den Dreck … Dieses Mal war es nicht Lavendels Handschrift, sie mussten eine Widerstandsgruppe gebildet haben. Der Journalist keuchte auf den Fluren, die Kunstschüler wurden von ihm bevorzugt. Sie sahen so schön wild aus auf den Fotos mit ihren Rastalocken und ihren Piercings, und sie posierten bereitwillig vor dem Schwarzen Brett: »Hier begann der Schülerprotest.«
Die Arschgeigen aus meiner Klasse waren ziemlich empört darüber, dass sie nicht im Mittelpunkt standen. Sie bezeichneten die Kunstschüler als Kommunisten und Hippies, die den Ruf der Schule kaputt machten. Einer dieser Arschgeigen bedauerte lautstark, dass man diesen Abschaum nicht foltern, ihnen auch kein heißes Bügeleisen auf den Bauch legen durfte, bis sie schreiend den Schuldigen verraten würden.
Ich selbst schlich herum und lauschte. Schultern und Rücken taten nach der unbequemen Arbeitshaltung letzte Nacht weh, ich hatte kopfüber hängen müssen und war ein paar Mal kurz davor gewesen, runterzufallen. Aber das war es wert gewesen. An diesem Tag war etwas in der Schule passiert. Indem ich sie getötet hatte, hatte ich sie gleichzeitig geweckt. Sie hatte langsam angefangen zu atmen.
In der großen Pause ging ich aufs Klo. Als ich an der Pissrinne stand, fühlte ich plötzlich ein Schulterklopfen.
»Was macht die Schusswunde?«
Es war Pålle. Er trug seine Freizeitkluft und roch nach Lagerfeuer. Ich fummelte an dem Chirurgenpflaster auf der Augenbraue.
»Die heilt. Du, Pålle, die sind hinter dir her. Die Schweinefresse und Ludvig.«
»Ja, ja, das hast du schon mal gesagt.«
»Und gestern Abend, das war echt krank … dein Vater war bei uns zu Hause …«
»Mein Vater?«
»So ein sonnengebräunter Typ, mit rasiertem Schädel. Hart wie Stahl.«
»Ja, klingt wie mein Vater.«
»Er hat in unserer Wohnung herumgeschnüffelt. Hat wohl geglaubt, ich würde dich da verstecken. Er wirkte … wie soll ich das sagen …«
»Entschlossen?«
»Er wollte dich schnappen«, flüsterte ich und schaute mich um. »Ist der Revolver der Grund?«
Pålle antwortete nicht. Stattdessen lachte er ganz merkwürdig.
»Bombardier den Dreck … Hast du gesehen – es hat angefangen.«
»Was?«
»Jetzt geht es bald los. Jemand will Bomben schmeißen.«
»Ich glaube, das ist nur ein Gedicht«, wandte ich ein. »Es heißt, einer der Künstler hat es geschrieben.«
»Weißt du, wie einfach es ist, eine Bombe zu bauen? Man braucht gar kein Dynamit dafür. Du nimmst ganz normale Sachen, Tüten und Pulver, die du in jedem Farbengeschäft kriegst. Wiegst
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