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Erschiess die Apfelsine

Erschiess die Apfelsine

Titel: Erschiess die Apfelsine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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alles auf einer Haushaltswaage ab. Mischst das Ganze vorsichtig, darfst keine Synthetikklamotten anhaben, die sich statisch aufladen. Sonst kann es instabil werden, du lässt das Baby vielleicht auf den Boden fallen, und dann gibt es dein Viertel nicht mehr. Würde mich nicht wundern, wenn sie sie bereits gebaut haben.«
    »Pålle, das ist ein Gedicht«, wiederholte ich. »Es handelt davon, dass wir nicht mehr wie Zombies leben sollen.«
    »Woher weißt du das?«
    Fast hätte ich es gesagt. Schließlich hatte ich ja auch sein Geheimnis erfahren. War er mein Freund geworden?
    »Ich muss los«, sagte ich ausweichend.
    »Okay.«
    »Hüte dich vor der Schweinefresse.«
    »Würde mich nicht wundern, wenn sie schon eine im Putzraum versteckt hätten«, sagte Pålle. »Oder hier auf dem Klo, vielleicht im Papierkorb. Fünfzig Kilo Nitro, das würde den ganzen Mist wegpusten.«
    Pålle grinste schnaufend, dann ging er. Ich blieb mit einem unangenehmen Gefühl zurück. Dann wühlte ich im Papierkorb. Nichts. Nur weiche, zusammengeknüllte Papierhandtücher, bis ganz unten. Aber in der Luft hing noch der Geruch von Waldbrand.
     
    Mittags kam ein Kranwagen der Stadt auf den Schulhof gerollt. Ein Stahlarm mit einem Korb dran wurde in die Höhe gefahren, drinnen klammerte sich eine Gestalt in Overall mit Schutzmaske und Handschuhen fest. Als der Korb auf gleicher Höhe mit den weißen Spraybuchstaben war, startete ein laut knatterndes Aggregat, und ein Metallmundstück fing an, den Text zu bespucken. Langsam und unerbittlich wurden die Buchstaben abgetragen und verschwanden in nach Chemie stinkenden Nebelschwaden.
    Aus dem Kunsttrakt kam eine Gruppe Schüler heranmarschiert und blieb unter dem Kran stehen. Allen voran Lavendel, verbissen und entschlossen, ihr Blick war eisenhart. Nie war sie mir schöner erschienen. Neben ihr ging ein langer, blond gelockter Knabe in einer schrecklich zerschlissenen Jeansjacke. Die war so kaputt, die musste er hinter einem Auto hergeschleppt haben. Um Stirn und Haarpracht trug er ein schmales Stirnband, wie auf einem Foto von Jimi Hendrix. Ich erkannte den Typen aus der Oberstufe wieder, er war eine Klasse über mir gewesen. Seine Eltern waren Schauspieler, die ab und zu in der Zeitung zu sehen waren. Es war zu spüren, dass der Typ Aufmerksamkeit suchte, er schob sich nach vorn, brüstete sich seiner Jeansjacke und versuchte sexy auszusehen. Da stand auch der Journalist wieder, er war zurückgekommen und knipste ein Foto nach dem anderen.
    Die Gruppe stand unter dem Kran mit dem Graffitireiniger. Mehrere Buchstaben waren bereits ausradiert. Lavendel zog ein Papier heraus und holte tief Luft, um den Lärm zu übertönen.
    »Ihr könnt auf uns herumtrampeln, aber ihr zerbrecht uns nicht! Ihr könnt uns unsere Gedichte nehmen, aber nicht unsere Gedanken. Ihr könnt unsere Worte ausradieren, aber nicht unsere Meinung. Wir werden nicht schweigen. Wir reißen den Asphalt mit unseren Schreien auf.«
    Das war ein Gedicht. Sie hatte ein Gedicht gelesen.
    »Und jetzt will Leonardo etwas sagen.«
    Leonardo. So hieß er also, der Gelockte. Er zog ein Papier aus seiner ausgefransten Jeanstasche und begann mit gekünstelter, zitternder Theaterstimme zu lesen:
    »Bombardier den Dreck … Schmeiß eine Bombe in alles …«
    Der Reporter machte Fotos aus verschiedenen Winkeln. Leonardo mit dem Kran im Hintergrund. Jesus gegen das Römische Reich. Man konnte sehen, wie hübsch er am Kreuz hängen würde. Von meinem Gedicht traf er nicht besonders viele Worte. Er hatte versucht, sie zu benutzen, aber sie nur lächerlich gemacht.
    »Hast du das Gedicht geschrieben?«, wollte der Journalist wissen.
    Leonardo nickte und überreichte ihm das Papier mit dem Text. Ich war kurz vorm Platzen. Mein Gedicht, meine Wandmalerei, alles nahmen sie mir weg. Jetzt trete ich vor! Jetzt trete ich vor und sage, wie es ist. Aber genau in dem Moment …
    »Ihr Arschgeigen! Verdammte Weicheier!«
    Eine größere Gruppe von Schülern hatte sich angeschlossen und verfolgte neugierig, was auf dem Schulhof passierte. Von hinten waren johlende Stimmen zu hören. Ich konnte die Schweinefresse und Ludvig heraushören.
    »Kommunisten!«, brüllten sie. »Weg mit den Kommunisten von unserer Schule.«
    »Wir haben das Recht zu reden«, sagte Lavendel.
    Die Schweinefresse drängte sich mit verächtlichem Blick zu ihr vor. Ich weiß nicht, was er machen wollte, vielleicht sie schubsen, sie zum Schweigen bringen. Niemand wagte zu reagieren,

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