Erste Male
verstehe schon, dass Familie Weaver kein Flugticket für meine Bittere-sechzehn-Party kauft, aber zur Beerdigung würden sie Hope sicher kommen lassen. Wer sollte sonst dafür sorgen, dass ich in meinem Jeans-Trägerkleid beerdigt werde – vor allem, wenn ich im Winter sterben sollte? Ich höre schon meine Mutter sagen, dass es viel zu kalt ist für was Ärmelloses, weil man sich ja als Leiche auf keinen Fall erkälten sollte.
Außerdem will ich natürlich, dass Hope die herzzerreißende Rede mit dem Titel »Die Jessica, die ihr nie gekannt habt« hält. So eine ähnliche Rede hat sie schon bei Heaths Beerdigung gehalten, ich weiß also, sie kann das.
Ich weiß allerdings ehrlich gesagt nicht, wie sie das geschafft hat. Heaths Tod war so eine öffentliche Angelegenheit. Plötzlich wurden die Weavers den örtlichen Medien zum Fraß vorgeworfen. TEENAGERTOD ENTHÜLLT SCHMUTZIGE KLEINSTADTGEHEIMNISSE, so die reißerische Schlagzeile im Ocean County Observer . JUGENDLICHER STIRBT AN ÜBERDOSIS – SCHOCKIERTE BÜRGER VERLANGEN HARTES DURCHGREIFEN, schrieb die Asbury Park Press . Im Tod wurde Heath der Inbegriff des »atypischen« Heroinkonsumenten, was zu McCarthy-mäßigem Verfolgungswahn führte: IHR KIND KÖNNTE DAS NÄCHSTE SEIN. Denn Heath kam ja nicht aus »schlechter Familie«. Mrs Weaver war Krankenschwester, Mr Weaver Grundschullehrer und Kommunionshelfer in der katholischen Kirche St. Bernadette, wo die ganze Familie jeden Sonntag zum Gottesdienst ging. Beide waren in der Elternvertretung aktiv und verpassten keinen Elternabend, ignorierten kein schlechtes Zeugnis. Wie konnte so anständigen Menschen eine solche Tragödie zustoßen? Alle wollten Antworten. Aber der einzige Mensch, der sie hatte, war tot.
Ehrlich gesagt war meine Vermutung, dass Heath vor allem deshalb Drogen nahm, weil er sich zu Tode langweilte. Er war wirklich sehr intelligent, und solche Leute haben esin Pineville nicht leicht. Hier gibt es nichts zu tun. Sein Tod hat mich sehr traurig gemacht (und tut es immer noch), und das nicht nur, weil es so schmerzte, Hope wie alle anderen weinen und Warum? fragen zu sehen. Ich hatte mir immer vorgestellt, wenn wir älter wären, würde Heath in mir mehr sehen als bloß die Spielkameradin seiner kleinen Schwester. Nicht, dass ich auf ihn stand oder so. Aber er wirkte auf mich wie ein Mensch, der mich verstehen würde. Ich freute mich darauf, ihm von Gleich zu Gleich gegenüberzustehen. Als Freundin.
Aber irgendwie komme ich in meiner Trauer nicht über die Wutphase hinaus. Ich denke immer nur, dass Heath alles zerstört hat, nicht nur zwischen uns, sondern auch zwischen Hope und mir.
Es war schon irgendwie ironisch, dass ich das alles gerade im Kopf hatte, als Brandi mir erzählte, was Mr Scherzer auf meinem Buch gelesen hatte, und mich fragte, ob ich je an Selbstmord gedacht hätte.
Tief im Inneren hatte ich den Wunsch, ihr zu sagen, dass ich nicht mehr oder weniger selbstmörderische Gedanken hegte als jede fast sechzehnjährige Spitzenschülerin, die weder eine beste Freundin noch einen festen Freund und größere Beulen im Gesicht als in der Bluse hat. Aber das würde Brandi niemals verstehen.
Brandi hat vor ungefähr fünfzehn Jahren ihren Abschluss an der PHS gemacht – das haben wir von Sara erfahren, die es von einem Onkel wusste, der eine Zeit lang mit Brandi »gepoppt« hat. (Saras Wortwahl.) Wir haben das betreffende Jahrbuch in der Bibliothek ausfindig gemacht und mit eigenen Augen gesehen, dass unsere Psychotante seinerzeit die wichtigsten Kategorien der Jahrgangswahl abgeräumt hat: Bestgekleidete, Bestaussehende, Beliebteste. Sie gehörtehundertprozentig zur Sahneschicht – oder wie auch immer man das damals genannt hat.
Aber ich wollte ihr ganz bestimmt nicht mein Herz ausschütten, denn es gibt nichts Nervigeres als Erwachsene, die einem erzählen, dass man in einigen Jahren mit einem Lachen auf diese Zeit zurückblicken wird – vor allem, wenn diese Erwachsenen in ihrer eigenen Jugend bestimmt die ganze Zeit blöde gekichert haben. Darum weigere ich mich auch, kluge Ratschläge meiner Mutter oder meiner Schwester anzuhören.
Also erzählte ich ihr, es sei alles ein großes Missverständnis. »Life Sucks, Then You Die« ist nicht etwa meine persönliche Philosophie, oh nein. L.S.T.Y.D. ist vielmehr der Name einer Indie-Funk-Band, auf die ich total stehe. Das kaufte sie mir nicht nur ab, sondern tat sogar so, als hätte sie schon von ihnen gehört, weil sie es einfach
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