Erwachen
Außerdem war ein Rock beim Motorradfahren ziemlich unpraktisch.
Ich durchwühlte sämtliche Taschen, aber in keiner fand sich Papier oder Stift. Rose zögerte kurz, dann öffnete sie ihre kleine schwarze Handtasche, die einst unserer Mutter gehört hatte. Sie reichte mir einen Notizblock und einen Kugelschreiber, und ich schrieb ihr außer meinem Namen und meiner Nummer auch noch den Namen des Pubs auf. Glücklicherweise dachte ich daran, »Alice« zu schreiben, nicht »Lily«. Es wurde von Tag zu Tag leichter, von mir als Alice zu denken.
»Ich meine das ernst«, wiederholte ich und gab ihr den Notizblock zurück. »Egal, was du brauchst, ruf mich an.« Clarence würde das zwar nicht gefallen, aber das war mir scheißegal. Wenn jemand Rose verfolgte, schwebte sie vermutlich sowieso schon in Gefahr. Und ich würde mich unter gar keinen Umständen von ihr fernhalten, wenn ich wusste, dass jemand hinter ihr her war.
Sie zögerte, dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, wie ich es schon seit ewigen Zeiten nicht mehr bei ihr gesehen hatte. »Gut«, sagte sie und ließ den Block in die Tasche gleiten. »Danke.« Sie warf einen Blick über die Schulter. »Ich muss los.«
Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ließ mich stehen - mutterseelenallein bei meiner eigenen Beerdigung.
Ehrlich gesagt, war das Ganze schon mehr als nur ein bisschen gruselig.
Kopfschüttelnd wandte ich mich in die entgegengesetzte Richtung und grübelte darüber nach, wer ihr wohl nachstellen mochte. Clarence? Um sicherzustellen, dass ich mich nicht zu einem Besuch bei ihr davonstahl? Aber das schien nicht sehr logisch - leider. Wenn es Clarence gewesen wäre, hätte ich wenigstens Bescheid gewusst. Und das wäre besser als diese nicht so recht greifbare Angst, dass Rose noch immer in Gefahr war.
»Ein trauriger Tag für die Kleine.«
Ich fuhr herum. Vor mir stand Deacon.
Meine Hand glitt in die Innentasche meines Mantels, wo mein Messer steckte. »Bleib ja weg von ihr.«
Er legte den Kopf auf die Seite. »Sie ist dir wichtig.«
»Ja.« Ich brachte es nicht über mich, das lauthals abzustreiten. Außerdem wusste er es sowieso schon. Mir fiel wieder ein, was Rose gesagt hatte, und auch, wie ich Deacon in der Ferne hatte stehen sehen, als ich mit den Hunden Gassi gegangen war. »Du bist mir gefolgt.«
»Ja«, entgegnete er ohne Umschweife. Lieferte keine Erklärung. Stand einfach nur selbstbewusst und ein klein wenig bedrohlich da. Nun gut - bedrohlich konnte ich auch sein.
»Und das Mädchen? Bist du dem auch gefolgt?«
»Wieso sollte ich das tun?«
»Sag du es mir.«
Er trat noch einen Schritt näher und wieder spürte ich dieses Kribbeln in meinem Bauch. Eine verschlingende, alles umfassende Begierde, die mir den Verstand raubte. Sie gehört mir, hatte er zu dem Mann auf der Tanzfläche gesagt. Und in diesem Moment hatte ich wirklich das Gefühl gehabt, dass das stimmte.
Zögerte ich deshalb so sehr, das Schlimmste von ihm zu glauben? Ich sagte mir, dass das nicht sein konnte: So oberflächlich war ich nicht, dass ich mich von meiner Lust beherrschen ließ. Jedenfalls wollte ich so nicht von mir denken.
Nein, ich zögerte, weil ich fürchtete, dass man Clarence falsche Informationen zugespielt hatte. Bewusst oder aus Dummheit versuchte jemand, Deacon für den Mord an Alice verantwortlich zu machen.
Aber sicher konnte ich mir da natürlich nicht sein.
Und ich wusste, dass Deacon gefährlich war.
Daran zweifelte ich keine Sekunde
»Wieso bist du hier?«, fragte ich und wandte mich vom Grab weg, hin zu dem weit entfernten Parkplatz, auf dem ich mein Motorrad abgestellt hatte.
»Offensichtlich verfolge ich dich«, sagte er leichthin. »Also lautet die eigentliche Frage vermutlich, wieso du hier bist.«
»Ich schulde dir keine Erklärung.«
»Ich brauche auch keine. Es ist eindeutig, Lily, wieso du gekommen bist.«
Er verkniff es sich, die Stimme zu heben oder mich triumphierend anzusehen, aber er hatte einen Treffer gelandet. Ich stolperte, fing mich aber sofort wieder. Es war nur ein kurzer Moment, ein leichtes Danebentreten, aber er hatte es mit Sicherheit bemerkt. Deacon entging vermutlich nur ganz selten etwas.
»Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte ich in dem Versuch, noch was zu retten.
»Lass die Spielchen!«, erwiderte er barsch. »Tu uns beiden wenigstens diesen einen Gefallen.«
Ich überlegte, welche Möglichkeiten mir blieben. Ihn umzubringen kam nicht infrage. Ich konnte davonlaufen. Oder
Weitere Kostenlose Bücher