Erwachen
Bis jetzt scheint es ganz gut zu klappen.«
Es war das Selbstvertrauen in seiner Stimme, das mich aus meiner lustbedingten Vernebelung herausriss. Ich entzog mich ihm und spürte die harte Wand des Mausoleums in meinem Rücken. »Auf der Straße erzählt man sich, du hättest Alice umgebracht.« Ich beobachtete ihn. Würde ihn diese Anschuldigung schockieren, oder würde er die Wahrheit akzeptieren?
Sein Gesicht verriet nichts. Er sah mich nur nachdenklich an und trat einen Schritt zurück. »Das kann ich den Leuten nicht verdenken«, entgegnete er. »Schließlich klebt ihr Blut an meinen Händen.«
Panik erfasste mich. »Was soll das heißen? Hast du sie umgebracht?«
»Ob ich ihr das Leben genommen habe?« Die Anschuldigung machte ihn wütend, aber er hielt seine Wut gut im Zaum. »Natürlich nicht. Aber das solltest du doch am besten wissen, oder etwa nicht?«
Verwirrt starrte ich ihn an. »Was willst du damit sagen?«
»Sag du es mir, Lily! Schließlich steckst du in ihrem Körper.«
35
»Du glaubst, ich hätte sie umgebracht? Bist du wahnsinnig?«
»Im Moment nicht.«
»Ich habe das alles nicht gewollt!« Ich schubste ihn weg, um an ihm vorbeizukommen, und ging wie eine Furie auf ihn los. »Ich bin gestorben, du Arsch, und dann wache ich im Körper von irgendeinem Mädchen auf und erfahre, dass sie umgebracht wurde. Sie ist tot, und ich bin noch da, und es vergeht kaum eine Minute, in der ich deswegen kein schlechtes Gewissen habe. Aber es ist nicht meine Schuld. Und meine Idee war es schon dreimal nicht. Und wenn ich rausfinde, wer sie umgebracht hat, reiße ich demjenigen das Herz aus der Brust und stopfe es ihm in den Rachen.«
Ich holte tief Luft, erstaunt, welche Wut sich in mir aufgestaut hatte. Ich wusste, dass sie sich zum Teil aus dem Dämonischen in mir speiste. Ich konnte die Bestien in mir kreischen hören. Sie wollten freigelassen werden, um ihren Zorn an Deacon auszutoben. Zur Hölle mit der Wahrheit!
Aber es war nicht seine Schuld. Er hatte Alice nicht umgebracht, dessen war ich mir ganz sicher.
»Ich hätte ihr niemals wehgetan«, sagte ich. »Ob du mir glaubst oder nicht, ist mir egal, aber ich habe ihr kein Haar gekrümmt.«
»Ich glaube dir«, antwortete er, und die Erleichterung in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Ich dachte schon, dass ich mich geirrt hätte. Dass sie mich wieder ausgetrickst hätten. Dass ich die Dinge nicht mehr im Griff hätte. Wieder zurückgesunken wäre in …« Kopfschüttelnd brach er mitten im Satz ab. Bei der Erinnerung war ein harter Glanz in seine Augen getreten, aber als er mich jetzt ansah, wurde sein Blick ganz sanft. »Meine Lily.«
Er nahm meine Hand, zog mich an sich, und schon zitterte ich wieder vor Erregung. Ich klammerte mich an ihn, und meine rasende Wut verwandelte sich in lodernde Lust. Ich brauchte ihn. Begehrte ihn.
»Was ist das bloß?«, fragte ich. »Was ist das zwischen uns?«
»Ich weiß es nicht«, murmelte er und streichelte mein Haar, mein Gesicht. Als ob er nicht genug von mir bekommen könnte. Als ob der Verlust der Verbindung zwischen uns ihn zerstören würde. »Ich weiß nur, dass ich dich gesehen habe, Lily. Ich habe dich gesehen und wusste sofort, dass du der Schlüssel zu meiner Erlösung bist.«
Ich wand mich aus seinen Armen und betrachtete sein Gesicht, unsicher, ob mir solch eine Verantwortung nicht zu viel war. »Gesehen?«
»Eine Vision«, entgegnete er. »Schon vor Monaten. Ich dachte, Alice wäre diejenige, die ich gesehen hätte, aber jetzt weiß ich, dass du das warst. Wir haben Seite an Seite gekämpft, und ich wusste, wir würden gewinnen, weil wir gewinnen mussten. Ich jedenfalls musste gewinnen. Wenn es uns nicht gelingen würde, wären wir beide verdammt, und die Welt mit uns.«
»Das verstehe ich nicht.«
Er drehte sich zur Seite, sah mich nicht an. »Es gibt da ein paar Dinge, die ich getan habe. Dinge, auf die ich nicht stolz bin. Unverzeihliche Dinge.« Der Schmerz in seiner Stimme kratzte über meine Haut wir Schmirgelpapier, und ich hätte am liebsten losgeheult. Er holte tief Luft und wandte sich wieder zu mir. »Aber das hier … wenn mir das gelingt… dann bin ich erlöst.«
»Was soll dir gelingen?«
»Ich muss die Neunte Pforte zur Hölle versiegeln.«
Ich schnappte nach Luft. Fragend glitt sein Blick über mein Gesicht. »Deswegen bist du auch hier, nicht wahr? Deswegen steckst du in ihrem Körper. Du bist hier, um die Pforte zu versiegeln.«
Ich nickte. »Ich weiß
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