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Erwachen

Erwachen

Titel: Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Kenner
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Verantwortungsgefühl bekriegten einander, und so hielt ich mich einfach zurück und wartete ab, welche Seite die Oberhand gewinnen würde.
    Über den sorgfältig gemähten Rasen hinweg beobachtete ich, wie Rose teilnahmslos die Beileidsbekundungen einiger Leute entgegennahm. Auch Jeremy vom Videoladen war unter ihnen, und das entlockte mir beinahe ein Lächeln. Jedenfalls bis mein Stiefvater an Rose’ Seite stolperte, betrunken und in seinem Kummer völlig nutzlos.
    Mein Magen zog sich zusammen, mir gefror das Blut in den Adern. Ich hatte versprochen, auf sie aufzupassen, aber jetzt, auf diesem Friedhof in den Fiats klang mein Versprechen hohl und leer. Wie hatte ich bloß so selbstgefällig schwören können, etwas zu tun, was ich nie und nimmer hinkriegen konnte? Ich konnte nicht auf sie aufpassen! Ich hatte es versucht. Verdammt, ich hatte wirklich alles gegeben.
    Und was war dabei rausgekommen? Wir waren beide Verdammte. Ich mit dem Makel der Sünde befleckt, und Rose mit Ängsten, wegen derer sie nach Anbruch der Dunkelheit das Haus nicht mehr verließ. Sie war eine Gefangene in ihrem eigenen Zuhause, gequält von ihren Erinnerungen, ihren Ängsten und den nicht gehaltenen Versprechen ihrer Schwester.
    »Rose«, flüsterte ich, weil die Tränen, die sich in meiner Kehle ansammelten, das Wort einfach aus mir herauspressten. Sie konnte mich unmöglich gehört haben, dennoch drehte sie sich um. Sie riss die Augen auf, beugte sich zu Joe und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann kam sie auf mich zu.
    Wie angewurzelt blieb ich stehen, trotz Clarence’ Warnung.
    »Warum verfolgen Sie mich?«
    Die Frage kam so unerwartet, dass sie mich völlig aus dem Konzept brachte. »Das tue ich nicht. Also … das eine Mal an der Schule, da habe ich auf dich gewartet. Aber …«
    »Aber was? Sie standen dort rum und haben mich beobachtet. Ich habe Sie doch gesehen! Und nur weil ich Sie die anderen Male nicht entdeckt habe, heißt das nicht, dass Sie nicht da waren. Ich kann Ihren Blick spüren. Ich sehe, wie Sie in dunklen Ecken lauern. Sie glauben, ich wüsste nicht Bescheid. Sie halten mich für blöd, aber das bin ich nicht.«
    »Ich verfolge dich nicht«, erwiderte ich und merkte, wie mir die Angst den Rücken hinaufkroch. Jemand spionierte meiner Schwester hinterher, und bei der Vorstellung wurden meine Knie ganz weich. Ich musste hierbleiben und meine Schwester beschützen, nicht irgendein kaum greifbares Übel bekämpfen.
    Sie sah mich nach wie vor argwöhnisch an. Ich seufzte, weil der Anflug von Genervtheit, den ich plötzlich meiner kleinen Schwester gegenüber empfand, so vertraut war, dass mir ganz warm ums Herz wurde.
    »Wenn ich dir tatsächlich nachspionieren würde, wieso sollte ich mich dann bei der Beerdigung deiner Schwester zeigen?«
    Ein wenig schmollend ließ sie sich das durch den Kopf gehen. »Stimmt auch wieder«, sagte sie und fuhr mit der Spitze ihres gewienerten schwarzen Schuhs durch das feuchte Gras. »Wieso sind Sie überhaupt hier?«
    »Um dir zu sagen, dass ich es ernst gemeint habe. Das, was ich neulich gesagt habe. Lily war meine Freundin, und ich weiß, dass sie dich niemals absichtlich allein gelassen hätte.«
    Sie nickte, und als sie mich ansah, standen ihr die Tränen in den Augen. Dann glitt ihr Blick nach unten, und auf einmal zog sie die Stirn kraus, kniff die Augen zusammen und streckte die Hand vor. Unwillkürlich griff ich an das Medaillon, das ich unter mein Hemd gestopft hatte. Aber dort war es nicht. Es hing über dem Hemd, wo Rose es sehen konnte.
    Ich zwang mich, nicht zusammenzuzucken, als ihre Finger das Medaillon berührten. Sie öffnete es und schnappte nach Luft.
    »Das hat sie mir gegeben«, sagte ich. »An dem Abend, als sie … also, ich sollte es für sie aufbewahren.«
    Bose stand einfach nur da, und ich hatte keine Ahnung, ob sie mir diesen Blödsinn abkaufte.
    Ich griff nach dem Verschluss. »Möchtest du es haben?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Sie wollte, dass Sie es bekommen.« Sie legte den Kopf auf die Seite, als versuche sie, sich einen Beim auf mich zu machen. »Sie sind wirklich ihre Freundin.«
    »Ja. Das habe ich dir doch gesagt. Und mein Versprechen gilt. Wenn du was brauchst - egal was -, kannst du mich anrufen. Hier. Ich habe jetzt ein Handy.« Ich trug noch immer eine schwarze Jeans und unter dem roten Ledermantel ein schwarzes T-Shirt. Vermutlich sah ich damit nicht gerade R espekt einflößend aus, aber ich hatte keine Zeit gehabt, mich umzuziehen.

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