Erwachende Leidenschaft
wissen, warum ich in London bin?«
Fast hätte er laut losgelacht. Hatte er sich nicht die letzten zehn Minuten darum bemüht, genau das herauszufinden? »Wenn du es mir sagen willst«, antwortete er zurückhaltend.
»In Wirklichkeit habe ich zwei Gründe für die Reise gehabt«, begann sie. »Aber beide sind gleich wichtig. Zum ersten geht es um ein Geheimnis, das ich aufdecken will. Vor einem Jahr traf ich eine junge Dame, die Victoria Perry hieß. Sie war mit ihren Eltern auf einer Reise durch Österreich gewesen und sehr krank geworden. Die Schwestern im Kloster zum Heiligen Kreuz sind für ihre Kenntnisse bei der Krankenpflege bekannt. Und als einmal feststand, daß Victoria sich erholen würde, ließen ihre Eltern sie unbesorgt bei uns, damit sie sich erholen konnte. Sie und ich schlossen schnell Freundschaft, und als sie schließlich nach England zurückkehrte, schrieb sie mir mindestens einmal monatlich einen Brief, manchmal sogar öfter. Ich wünschte, ich hätte die Briefe aufbewahrt, denn in zweien der dreien erwähnte sie einen heimlichen Bewunderer, der ihr den Hof machte. Sie fand das alles sehr romantisch.«
»Perry … wo habe ich diesen Namen denn schon einmal gehört?« überlegte Colin laut.
»Ich weiß nicht.«
Er lächelte. »Aber ich hätte dich nicht unterbrechen sollen. Bitte sprich weiter.«
Sie nickte. »Der letzte Brief, den ich von ihr bekam, war auf den ersten September datiert. Ich schrieb sofort zurück, hörte aber nichts mehr von ihr. Natürlich begann ich, mir Sorgen zu machen. Als ich bei deinen Eltern ankam, erzählte ich ihnen, ich wollte einen Boten schicken, um Victoria um eine Verabredung zu bitten. Ich konnte es kaum erwarten, alle Neuigkeiten von ihr zu hören, denn sie führt ein sehr aufregendes Leben, und ihre Briefe haben mir immer viel Spaß gemacht.«
»Und habt ihr euch verabredet?«
»Nein«, sagte Alesandra. Sie wandte sich um und schaute zu Colin auf. »Dein Vater erzählte mir von dem Skandal. Victoria soll angeblich mit einem Mann von niederem Stand davongelaufen sein und in Gretna Green an der schottischen Grenze geheiratet haben. Kannst du dir so etwas vorstellen? Ihre Familie glaubt es auch noch. Dein Vater hat mir erzählt, sie hätten sie sogar enterbt.«
»Jetzt erinnere ich mich wieder. Von dem Skandal habe ich gehört.«
»Aber das stimmt alles nicht.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Nicht?«
»Nein«, sagte sie bestimmt. »Ich kann Menschen gut einschätzen, Colin, und ich kann dir versichern, Victoria wäre nicht einfach weggelaufen. Sie ist nicht der Typ dafür. Ich will herausfinden, was wirklich passiert ist. Vielleicht steckt sie in Schwierigkeiten, und ich kann ihr helfen. Morgen schicke ich einen Boten zu ihrem Bruder Neil und bitte darum, empfangen zu werden.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Familie die Angelegenheit noch einmal aufrollen will.«
»Ich kann sehr diskret sein.«
Ihre Stimme klang ernst und aufrichtig. Sie hatte einen Hang zum Dramatischen, fand er, und sie war so verdammt schön, daß er Mühe hatte, ihren Worten zu folgen. Ihre Augen hypnotisierten ihn förmlich. Er hatte zwar wahrgenommen, daß sie die Hand auf dem Türknauf zu seinem Zimmer liegen hatte, aber ihr Duft verwirrte ihn noch mehr. Der Duft von Rosen hing zwischen ihm und ihr in der Luft. Sofort trat Colin einen Schritt zurück, um etwas Distanz zu schaffen.
»Macht es dir etwas aus, daß ich in deinem Bett schlafe?«
»Das wußte ich bisher noch nicht.«
»Flannaghan will meine Sachen morgen in das Nebenzimmer bringen. Er glaubte, du würdest heute abend nicht mehr nach Hause kommen. Es ist nur für eine Nacht, weißt du, aber wenn er die Zeit gehabt hat, das Bett im Nebenzimmer zu machen, geb’ ich dir gerne deines zurück.«
»Wir können morgen früh tauschen.«
»Das ist lieb. Danke.«
Erst jetzt bemerkte Colin die dunklen Ringe unter ihren Augen. Die Frau war erschöpft, und er hielt sie mit seinen dummen Fragen von ihrem Schlaf ab!
»Du brauchst deine Ruhe, Alesandra. Es ist mitten in der Nacht.«
Sie nickte und öffnete dann die Tür zu seinem Zimmer. »Gute Nacht, Colin. Nochmals danke für deine Gastfreundschaft.«
»Ich kann doch keine Prinzessin abweisen, die vom Pech verfolgt ist«, sagte er.
»Wie bitte?« Sie hatte keine Ahnung, was er mit der Bemerkung sagen wollte. Wie war er nur auf die Idee gekommen, sie könnte vom Pech verfolgt sein?
»Alesandra, was war der zweite Grund, weswegen du nach London gekommen
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