Erwachende Leidenschaft
geglaubt, doch in all den siebenundsechzig langen Jahren, die sie auf dieser schönen Erde weilte, war sie, bis eines kalten Tages im Februar 1820 der Brief aus England kam, niemals Zeuge eines solchen Phänomens geworden.
Anfangs hatte die Oberin noch nicht gewagt, die beglückenden Neuigkeiten zu glauben, denn sie befürchtete, es könnte eine tückische List des Teufels sein, der ihr Hoffnungen machen wollte, nur um sie kurz darauf grausam zu zerschlagen. Doch nachdem sie pflichtbewußt die Botschaft beantwortet und eine zweite Bestätigung mit dem Siegel des Duke of Williamshire bekommen hatte, nahm sie das Geschenk als das, was es wirklich war.
Ein Wunder.
Endlich konnten sie diesen Satansbraten loswerden. Die Oberin teilte den anderen Nonnen die gute Nachricht am nächsten Morgen bei der Frühmette mit. Am Abend feierten sie mit Entensuppe und frischgebackenem Schwarzbrot. Schwester Rachael war ausgesprochen aufgedreht und albern und mußte zweimal wegen lauten Lachens während der Vesper getadelt werden.
Der Teufelsbraten – oder genauer Prinzessin Alesandra – wurde am folgenden Nachmittag in das karge Büro der Oberin gerufen. Während man ihr mitteilte, daß sie den Konvent verlassen würde, packte Schwester Rachael bereits eifrig ihre Sachen zusammen.
Die Oberin saß auf dem Stuhl hinter dem riesigen Schreibtisch, der genauso alt und verwittert wie sie selbst war. Die Nonne befingerte geistesabwesend die dicken Holzperlen ihres Rosenkranzes, der an ihrem schwarzen Habit befestigt war, während sie darauf wartete, daß ihr Schützling reagierte.
Prinzessin Alesandra war entsetzt über die Nachricht. Nervös verschränkte sie die Finger ineinander und ließ den Kopf sinken, damit die Oberin ihre Tränen nicht sehen konnte.
»Setz dich, Alesandra. Ich möchte nicht mit deinem Scheitel reden.«
»Wie Sie wünschen, Ehrwürdige Mutter.« Sie setzte sich auf die äußerste Kante des harten Stuhles, straffte ihre Haltung, um es der Oberin recht zu machen, und faltete brav die Hände im Schoß.
»Nun, was sagst du zu den Neuigkeiten?« fragte die Oberin.
»Es war das Feuer, nicht wahr, Ehrwürdige Mutter? Sie haben mir dieses kleine Mißgeschick noch nicht verziehen!«
»Unsinn«, antwortete die Oberin. »Ich habe dir schon vor einem Monat deine Gedankenlosigkeit vergeben.«
»War es dann Schwester Rachael, die Sie überredet hat, mich fortzuschicken? Dabei habe ich ihr doch schon gesagt, wie leid es mir tut, und ihr Gesicht ist längst nicht mehr so grün.«
Die ältere Frau schüttelte den Kopf. Doch die Erinnerung an die vergangenen Missetaten des Mädchens ließ den Ärger erneut aufkeimen, so daß sie die Stirn in tiefe Falten legte.
»Wieso du geglaubt hast, diese furchtbare Paste würde Sommersprossen entfernen können, ist mir immer noch ein Rätsel. Wie auch immer, Schwester Rachael hat sich ja freiwillig darauf eingelassen, und sie gibt dir keine Schuld … jedenfalls nicht übermäßig viel«, setzte sie dann noch hastig hinzu, damit die Lüge, die sie ausgesprochen hatte, in Gottes Augen nur eine nebensächliche Sünde wäre. »Alesandra, ich habe deinem Vormund nicht geschrieben, damit er dich hier wegholt. Er hat mir den Brief geschickt. Hier ist er. Lies, und du wirst sehen, daß ich die Wahrheit sage.«
Alesandras Hand zitterte, als sie nach der Botschaft griff. Dann überflog sie schnell den Inhalt, bevor sie ihn der Oberin zurückgab.
»Du siehst, wie dringend es ist, nicht wahr? Dieser General Ivan, den dein Vormund erwähnt, scheint mir einen üblen Ruf zu haben. Kannst du dich an ihn erinnern?«
Alesandra schüttelte den Kopf. »Wir sind einige Male in Vaters Heimat gewesen, aber da war ich noch sehr klein. Ich weiß nicht, ob ich ihn kennengelernt habe. Warum in Gottes Namen soll er mich heiraten wollen?«
»Dein Vormund versteht die Beweggründe des Generals«, antwortete die Oberin. Sie trommelte mit den Fingern auf dem Brief herum. »Die Untertanen deines Vaters haben dich nicht vergessen. Du bist immer noch ihre geliebte Prinzessin. Der General hofft, daß er mit Hilfe der Massen das Königreich übernehmen kann, wenn er dich heiratet. Der Plan ist klug.«
»Aber ich will ihn nicht heiraten«, flüsterte Alesandra.
»Und das möchte dein Vormund auch nicht«, sagte die Oberin. »Dennoch befürchtet er, daß der General sich mit einem Nein nicht zufrieden gibt, sondern dich statt dessen entführen würde, um seinen Erfolg zu garantieren. Aus diesem Grund hat der Duke
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