Erwachende Leidenschaft
wollte.
»Und wo sind deine Eltern jetzt?« fragte er.
»Mein Vater starb, als ich elf war«, antwortete sie. »Meine Mutter starb den Sommer danach. Kann ich dir helfen, deine Papiere wieder aufzusammeln?« versuchte sie, das Thema zu wechseln.
»Welche Papiere?«
Ihr Lächeln war entzückend. »Die, die du fallengelassen hast.«
Er sah zu Boden und entdeckte seine Papiere über die ganze Treppe verstreut. Er fühlte sich wie ein Vollidiot, wie er da stand und Luft festhielt, mußte aber über sich selbst grinsen. Ich bin wirklich nicht besser als mein Butler, dachte er, und Flannaghan hatte immerhin noch eine akzeptable Entschuldigung für sein dusseliges Verhalten. Er war jung, unerfahren und wußte es einfach nicht besser.
Colin hätte es jedoch besser wissen müssen. Er war um einiges älter als sein Diener, sowohl an Jahren als auch an Erfahrung. Doch schließlich war er heute nacht übermüdet, und das mußte einfach der Grund dafür sein, daß er sich wie ein Narr benahm.
Außerdem war sie wirklich eine unglaubliche Schönheit. Er seufzte laut. »Ich sammle die Papiere später auf«, sagte er. »Warum bist du hier, Prinzessin Alesandra?«
»Dein Bruder und seine Frau sind krank«, erklärte sie.
»Ich sollte bei ihnen wohnen, solange ich in London bin. Im letzten Moment sind sie jedoch unpäßlich geworden, und man hat mir gesagt, ich soll bei dir einziehen, bis sie sich erholt haben.«
»Wer hat dir das gesagt?«
»Dein Vater.«
»Und was hat er für ein Interesse daran?«
»Er ist mein Vormund, Colin.«
Nun konnte er seine Überraschung nicht mehr verbergen. Sein Vater hatte niemals ihm gegenüber ein Mündel erwähnt, obwohl Colin annahm, daß ihn das auch nichts angehen mußte. Sein Vater kümmerte sich stets selbst um seine Angelegenheiten und vertraute sich selten einem seiner Söhne an.
»Bist du zur Saison nach London gekommen?«
»Nein«, sagte sie. »Obwohl ich mich darauf freue, zu ein paar Parties zu gehen und die Sehenswürdigkeiten Londons zu besuchen.«
Colins Neugier wurde stärker. Er trat noch einen Schritt auf sie zu.
»Ich möchte dir wirklich keine Unannehmlichkeiten bereiten«, sagte sie nun. »Ich hatte vorgeschlagen, mir ein eigenes Haus zu mieten oder das Haus deiner Eltern in London zu beziehen, aber dein Vater wollte nichts davon hören. Er sagte, es würde sich nicht schicken.« Sie seufzte. »Ich habe wirklich versucht, ihn zu überreden. Doch leider waren seine Argumente stärker.«
Himmel, ihr Lächeln war wirklich hübsch. Und ansteckend. Er stellte fest, daß er es erwiderte. »Niemand kann die Argumente meines Vaters entkräften«, stimmte er zu. »Du hast mir aber immer noch nicht gesagt, warum du hier bist.«
»Ja, ich weiß. Es ist so kompliziert«, antwortete sie. »Es war bisher nicht nötig, nach London zu kommen, jetzt aber schon.«
Er schüttelte den Kopf. »Halbe Erklärungen machen mich wahnsinnig. Ich habe eine echte Schwäche … man sagt, ich soll sie von meinem Partner übernommen haben. Ich bewundere vollkommene Ehrlichkeit, weil sie heutzutage so selten geworden ist. Und solange du Gast im meinem Haus bist, würde ich es zu schätzen wissen, wenn wir offen miteinander umgehen. Können wir uns darauf einigen?«
»Ja, natürlich.«
Wieder, rang sie die Hände. Offenbar hatte er ihr Angst eingejagt. Wahrscheinlich hatte er sich wie ein Ungeheuer angehört. Und plötzlich fühlte er sich auch wie eins. Es tat ihm zwar leid, daß er sie verunsichert hatte, aber er freute sich auch, daß er seinen Willen bekommen hatte. Sie hatte weder versucht, mit ihm zu streiten noch kokett zu sein. Er konnte Koketterie nicht ausstehen.
Er zwang sich zu einem freundlicheren Tonfall. »Darf ich dir ein paar sachliche Fragen stellen?«
»Sicher. Was möchtest du wissen?«
»Was sollen die beiden Wachen bei dir? Jetzt, wo du dein Ziel erreicht hast, kannst du sie doch entlassen. Oder meinst du, ich könnte dir meine Gastfreundschaft doch versagen?«
Sie beantwortete die letzte Frage zuerst. »Oh, ich habe nie daran gedacht, daß du mir eine Unterkunft verweigern würdest. Dein Vater hat mir versichert, daß du mich großzügig aufnehmen wirst. Flannaghan hat eine Nachricht für dich.« Sie hielt kurz inne. »Dein Vater hat ebenfalls darauf bestanden, daß ich die Wachen behalte. Raymond und Stefan sind von der Mutter Oberin des Klosters, wo ich bisher gelebt habe, engagiert worden. Sie haben mich nach England eskortiert, und dein Vater wollte, daß ich sie
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