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Erwacht

Erwacht

Titel: Erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Shirvington
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wirst?« Er stieg auf den Hocker.
    Ich setzte mich auf den Boden und schaute zu, wie er die Wand fertig grundierte, bei jedem Pinselstrich spannten sich die Muskeln seiner braun gebrannten Unterarme an. Alles wurde besser, wenn ich einfach nur bei ihm war. Das war immer so. Ich hatte noch nicht endgültig entschieden, was ich malen würde, aber es sollte ungefähr so aussehen, wie sich Lincolns Zuhause für mich anfühlte. Außerdem wollte ich wohl auch, dass er wusste, welche Gefühle er in mir auslöste.
    »So ungefähr. Es wird so etwas wie eine … Aura werden, denke ich.«
    Er schaute auf mich herunter und zog eine Augenbraue hoch. »Erklär es mir.«
    »So etwas wie: Obwohl irgendwelche Mächte von außen auf die Wände drücken, fühlt man sich hier drin wie in einem Kokon des Guten. Als würde man nach Hause kommen.« Ich spürte, dass er lächelte, was mich ermutigte, fortzufahren. »Wenn ich darüber nachdenke, wie andere es sehen würden, stelle ich mir vor, dass sie eine gute Macht sehen, die die Mächte des Bösen überstrahlt und diesen Ort beschützt.« Lincoln fiel beinahe von seinem Hocker. Er sprang mit bestürztem Gesicht zu Boden.
    Ich versuchte ihn zu beruhigen. »Mach dir keine Sorgen! Es wird dezent und zart werden, aber trotzdem nicht mädchenhaft. Es wird dir echt gefallen.« Ich machte mir Sorgen, dass ich gerade dabei war, meine Wand zu verlieren, noch bevor ich überhaupt angefangen hatte, deshalb fügte ich rasch hinzu: »Wenn es dir nicht gefällt, streiche ich sie wieder weiß für dich. Versprochen! «
    »Nein … Nein, das klingt großartig – um nicht zu sagen perfekt. Ich war nur überrascht. Zu hören, dass du es so erklärst. Die Sache mit Gut und Böse. Denkst du … viel darüber nach? Über Gut und … Böse?«
    Erleichtert stieß ich den Atem aus. Ich hatte meine Wand noch.
    »Ähm … keine Ahnung. Nicht wirklich. Ich weiß echt nicht, was ich von diesem ganzen Thema Gott halten soll.« Obwohl ich das wusste, wenn ich ehrlich war. »Du weißt, dass ich nicht religiös bin.«
    Wie konnte ich an Gott glauben? Was für ein Mistkerl würde mich im Moment meiner Geburt mutterlos zurücklassen? Würde mich in einem Zimmer allein lassen mit einem Perversling, der für immer durch meine Gedanken spuken würde? Und ich spreche hier nur von mir – vom Rest der Welt will ich gar nicht erst anfangen. Gott? Der ist nur etwas für die besonders Verlorenen, die ihn infrage stellen können, und für die besonders Berufenen, die ihn loben können.
    Er nickte, als hätte er all die Dinge, die ich nicht gesagt hatte, gehört. »Ich auch nicht. Aber ich glaube, dass gute und böse Mächte in unserer Welt wirken und … darüber hinaus. Ich glaube, dass zwischen uns und dem ›Thema Gott‹« – er wackelte mit den Fingern, um Anführungszeichen anzudeuten – »sozusagen eine weitere Ebene liegt.«
    »Eine weitere Ebene?«, fragte ich.
    »Einfach …« Er bewegte seine Hände, als würde er überlegen, ob er fortfahren sollte oder nicht. »Weitere Bereiche … weitere Wesen.«
    »Tatsächlich?«, sagte ich ein wenig irritiert. »Was haben immer alle mit diesem jenseitigen Kram?«
    »Wie? Hat sonst noch jemand mit dir geredet?«, fragte er und machte plötzlich einen Schritt auf mich zu.
    »Nein … na ja, irgendwie schon. Meine Mum hat auch an Geister oder so etwas geglaubt.«
    »Oh«, sagte er, wobei er ausatmete und wieder ein bisschen zurückwich.
    »Und?«, ermunterte ich ihn, erpicht darauf, ihn vom Thema meiner Mutter abzulenken. »Glaubst du, dass diese anderen Wesen , oder was auch immer, gut sind?«
    »Vielleicht. Aber alle Dinge brauchen ihr Gegengewicht. Du weißt schon, Licht und Dunkelheit, Sonne und Mond, Yin und Yang … Wo es also Wesen gibt, die Gutes hervorbringen, muss es auch solche geben, die das nicht tun.«
    »Du meinst, das Böse?«, fragte ich ihn verwirrt.
    »Vielleicht ist es nicht ganz so eindeutig. Vielleicht bedingt das Vorhandensein einer Sache – Licht oder Dunkelheit – die Existenz der anderen. Denk mal darüber nach, niemand kann ein Superheld werden, wenn er nicht zuerst gegen die Mächte der Finsternis gekämpft hat. Ärzte könnten nicht Gutes tun, wenn es keine Krankheiten gäbe, die sie behandeln könnten.« Sein Blick war fest auf mich gerichtet, als wollte er unbedingt, dass ich ihn verstehe. Als er bemerkte, dass nichts von mir kam, stieß er ein halbherziges Lachen aus. Dann streckte er lächelnd seine Hand aus, um mich vom Boden

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