Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erwacht

Erwacht

Titel: Erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Shirvington
Vom Netzwerk:
verstehen. Die Intensität des Gefühls, das meinen Arm hinaufwanderte, steigerte sich so sehr, dass ich Panik bekam. Ich wollte gerade das Armband fallen lassen, als Lincoln wieder seine Hand auf meinen Arm legte. Etwas wie ein kalter Wind wehte durch meinen Körper; er entstand tief in mir und bewegte sich nach außen, wobei er das seltsame Gefühl mit sich nahm. Ich ließ das Armband fallen und ballte meine Hände ein paar Mal zu Fäusten.
    »Alles in Ordnung?« Seine Stimme beruhigte mich.
    Ich holte ein paar Mal Luft und packte fest meine Beine. Ich musste mich wieder unter Kontrolle haben. Ich musste stärker sein, wenn Lincoln da war, nicht so viel Schwäche zeigen. Nicht mehr.
    »Es geht mir gut. Ist das immer so?«
    Er schaute mich prüfend an. »Bei jedem ist es ein bisschen anders. Sie sind so beschaffen, dass sie unsere Sinne stärken, dass sie uns alarmieren, wenn Verbannte in der Nähe sind. Bei den meisten Grigori prägt sich ein Sinn sehr stark aus, zum Beispiel Geruchs – oder Tastsinn. Manche fühlen aber auch mehr. Was hast du gespürt?«
    Ich ignorierte seine Frage. »Was passiert bei dir?«
    »Ich höre Vögel und Wind. Und ich rieche Blumen. Manchmal meine ich, etwas zu fühlen, aber ich bin mir nicht sicher. Es ist schon ungewöhnlich genug, dass zwei Sinne so stark ausgeprägt sind, es wäre unwahrscheinlich, wenn ich noch einen dritten hätte. Griffin riecht auch Blumen. Wir riechen überwiegend Kombinationen, aber manchmal, so sagt er, kann er es ein bisschen einschränken, was dabei hilft, einen Verbannten zu identifizieren, den er zuvor schon einmal getroffen hat, und zu erkennen, ob er aus dem Licht oder aus der Finsternis kommt. Es braucht aber seine Zeit, bis man so etwas entwickelt hat.«
    Ich dachte daran, was ich wahrgenommen hatte. Ich hatte definitiv die Vögel gehört und die Blumen gerochen. Ich war mir ziemlich, aber nicht ganz sicher, Äpfel geschmeckt zu haben. Außerdem war da noch dieses Flackern von Licht und die kalte Hitze am Ende, aber ich wusste nicht, was das bedeutete. Plötzlich war ich gehemmt.
    »Werden bei irgendjemandem alle Sinne verstärkt?« Ich versuchte, unbefangen zu klingen.
    Er schaute mir prüfend in die Augen. »Nein. Drei ist das höchste, was ich je gehört habe. Zwei sind schon ungewöhnlich. Vi, sag mir, was du wahrgenommen hast.«
    »Passiert das Gleiche mit dem anderen Armband?«, fragte ich und blickte das andere Silberband an.
    »Ja.« Langsam wurde er frustriert. »Violet, du weichst meiner Frage aus.« Er hatte meinen vollständigen Namen verwendet. Am liebsten hätte ich ihm deshalb überhaupt nicht geantwortet, aber andererseits hatte ich heute auch verstärkt seinen vollen Namen benutzt. Die Distanz zwischen uns wurde wohl größer.
    Ich dachte daran, es ihm zu sagen, aber stattdessen sagte ich nur: »Vielleicht habe ich etwas gehört. Sicher bin ich mir aber nicht.« Ich schaute auf meine Hände hinunter, die jetzt so fest zu Fäusten geballt waren, dass ich spürte, wie sich die Nägel in meine Handflächen gruben, bis es praktisch blutete. Lincoln fasste herüber und bedeckte sie mit seinen eigenen Händen; ich konnte nichts dagegen tun – ich wollte ihn noch immer. Ich entspannte kurz meine Hände und er nahm sie zärtlich in seine. Ich schloss die Augen und genehmigte mir den Luxus. Dann holte ich tief Luft, stieß sie wieder aus und zog meine Hände weg. Er ließ es zu.
    »Violet?«, drängte er. Er kannte mich zu gut, aber im Moment konnte ich mir es auf keinen Fall leisten, meine Schutzmauern noch tiefer sinken zu lassen.
    »Das war’s. Das ist alles, was ich gefühlt habe. Ich habe getan, worum du mich gebeten hast, Linc, jetzt … geh einfach.«
    Ich konnte sehen, wie er mit sich kämpfte, während er zuschaute, wie ich aus seinem Wagen kletterte, aber ich wusste, er würde deswegen nicht mit mir streiten – und das tat er auch nicht.

KAPITEL ZWÖLF
    »…selbst die Engel würden das gern schauen.«
    PETRUS 1, 12
     
    A m ersten Tag saß ich am Kopfende meines Bettes und schaute aus dem Fenster. Ohne dass man mich von draußen sehen konnte. Lincoln lehnte zwölf Stockwerke weiter unten an der Bushaltestelle. Er wartete auf mich. Es war genau 6:30 Uhr – die Zeit, zu der wir uns jeden Tag trafen. Ich hatte für unsere frühmorgendlichen Joggingrunden zur Bedingung gemacht, dass er Kaffee mitbrachte und wir den ersten Kilometer zu Fuß gingen, damit ich ihn trinken konnte. Ich umklammerte fest meine Knie und beobachtete, wie

Weitere Kostenlose Bücher