Erwacht
ich bei ihm war. »Du hast sie gesteuert, sie beruhigt.«
Er nickte. »Ich habe dir etwas von deiner Angst genommen und dir ein bisschen von dem Gefühl gegeben, mit dem du sie beherrschen kannst.«
»Du hast mir ein Gefühl gegeben ?«, fragte ich. Ich machte große Augen.
»Manche Engel … Verbannte können das. Einer der Gründe, weshalb wir für Menschen gefährlich sind. Wir können ihre Gefühle lesen und beeinflussen – manche intensivieren, andere auslöschen. Das ist eine meiner Stärken.«
Sofort dachte ich zurück, ließ die Zeit, die ich mit ihm verbracht hatte, noch einmal Revue passieren, und versuchte, mich daran zu erinnern, welche Gefühle ich gehabt hatte.
Er schien zu wissen – oder »lesen« zu können –, wie ich mich fühlte.
»Violet, ich habe das nur getan, weil ich dir helfen wollte, Kontrolle zu gewinnen. Mit der Zeit wirst du das selbst lernen. Ich habe es nicht böse gemeint.«
Misstrauisch schaute ich ihn an. »Vorgestern, vor meiner Wohnung …«
Er schaute zu Boden. »Vielleicht habe ich dir da ein klein wenig von meinen eigenen Emotionen gegeben. Zu meiner Verteidigung kann ich aber sagen, dass ich die Situation nicht ausgenutzt habe, so gern ich das auch …« Er sprach nicht zu Ende.
»Und gestern Abend?«, bohrte ich weiter und wurde immer aufgewühlter wegen dieses Übergriffs.
»Ich habe nur versucht, dir dabei zu helfen, darüber hinwegzukommen, was mit dem Mädchen passiert ist. Ich wollte der Situation die Härte nehmen.«
Meine Augenbrauen schossen nach oben. Jetzt, wo ich darüber nachdachte, war ich besser damit fertiggeworden, als ich erwartet hätte, wenn man mal bedachte, was ich gesehen hatte. »Ist das alles?«, fragte ich. Meine Stimme klang vorwurfsvoll.
»Ich war ein bisschen … ungeschickt. Entschuldige bitte.« Er lächelte und zuckte die Achseln. »Es kann sehr schwer sein, sich in deiner Gegenwart in Schach zu halten.«
Ich ärgerte mich, dass ich mich so beeinflussen ließ und bei seinen Worten errötete. Ich klammerte mich an meine Wut. »Was ist mit heute? Jetzt?«
»Kaum etwas«, sagte er und wedelte mit der Hand durch die Luft, als würden wir gerade darüber sprechen, dass er sich eine Extrapraline aus der Schachtel genommen hat. »Nun weißt du es. Du brauchst dir aber nicht einzubilden, dass du das jetzt als Ausrede benutzen kannst, die sehr realen Gefühle zu verleugnen, die du für mich hegst.« Und schwupps! war er wieder sein altes arrogantes Selbst. »Alles, was du gestern Abend und heute empfunden hast, kam von dir selbst. Ich sollte es wissen. Ich habe es nämlich gespürt.« Sein Lächeln wurde breiter.
Obwohl ich sterben wollte, weil ich wusste, dass er jedes einzelne meiner Gefühle mitbekommen hatte, würde er mich damit nicht abschrecken. »Wie werde ich je wissen, ob das, was ich fühle, wenn du bei mir bist, echt ist oder nicht?«
Sein Lächeln stockte und er sah beunruhigt aus. Er beugte sich ein wenig zu mir vor. »Du wirst dir dessen jetzt bewusster sein. Solltest du mich je dabei erwischen, dann weiß ich, dass du mir nie wieder vertrauen würdest. Das würde ich nicht riskieren.«
Er hatte recht, ich würde ihm nicht mehr trauen. Aber würde er sich daran halten?
Unbewusst wanderte mein Blick zur Ausgangstür. Die Macht der Gewohnheit. Aber wenn ich Phoenix jetzt hier stehen ließ, dann wartete er bestimmt schon an der Tür, wenn ich nach Hause käme. Ich fuhr mir mit den Händen durch die Haare. Tatsache war, dass mir so langsam die Verbündeten ausgingen – wenn ich ihn auch noch vergraulte, wo käme ich dann hin?
»Okay, aber wage es nicht …«, drohte ich ihm, wobei ich versuchte, meinen Fluchtinstinkt zu unterdrücken und so viele bedrohliche Gefühle aufzubringen, wie ich vermochte, um meine Worte zu untermauern.
»Das werde ich nicht«, versprach er und hob die Hände in gespielter Kapitulation.
A m nächsten Tag ging ich zurück zu dem Ort, an dem Claudia ermordet worden war, und legte am Eingang der Gasse einen Strauß Sonnenblumen nieder. Dort lagen bereits Haufen von verwelkten Blumen, die sie niemals sehen würde, und Karten, die sie niemals lesen würde. Sie stammten von ihren Angehörigen und Freunden.
»Es tut mir leid, Claudia«, flüsterte ich.
Jetzt, wo ich wusste, dass Phoenix meine Gefühle verändert hatte, fiel es mir leichter, in mich zu gehen und die Trauer – und vor allem die Schuld – zu finden. Das Geräusch ihres Nackens … Ihren allerletzten Gesichtsausdruck, als sie
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