Erwacht
wusste, was jetzt kommen würde. Ich hatte ihre blauen Augen gesehen, bevor sie zur Seite gedreht wurden – unter eine Decke aus rotem Haar – ich hatte die nackte Angst gesehen.
Bevor ich ging, wandte ich mich um, um in die leere Gasse zu schauen.
»Es tut mir so leid, dass ich dich nicht retten konnte«, sagte ich durch diesen schrecklichen Kloß in meinem Hals und dabei wurde mir klar, dass das vielleicht nur der Anfang war.
Auf dem Nachhauseweg rief mich Phoenix an und überredete mich dazu, mit ihm zu Mittag zu essen. Ich wollte schon Nein sagen, als er ankündigte, dass wir in »unser Café« gehen würden, womit er, wie sich herausstellte, das Dough to Bread meinte, aber er versprach, sich zu benehmen, nachdem ich ihm erklärt hatte, dass wir beide absolut nichts hatten, was man »unser« hätte nennen können.
Überraschenderweise wurde es immer einfacher, Zeit mit ihm zu verbringen. Selbst die Sinneswahrnehmungen störten nicht mehr so sehr. Sie kamen und gingen noch immer, aber mal schien ich sie mehr, mal weniger wahrzunehmen. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass mit Phoenix zusammen zu sein die Leere füllte, die Lincoln hinterlassen hatte, aber die Nähe, die Vollkommenheit, die ich fühlte, wenn ich bei Lincoln war, gab es kein zweites Mal. Es war entmutigend, darüber nachzudenken, dass die Verbindung, die ich als so stark empfunden hatte, vielleicht nur auf unsere »Engelkomponente« zurückzuführen war und – was noch schlimmer war – dass ich das vielleicht nie wieder empfinden würde. Wenigstens ging es mit Phoenix ehrlich zu … bis zu einem gewissen Grad.
Wir hatten noch immer nicht viel darüber geredet, was mit Claudia passiert war. Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht die Einzige war, die sich deshalb unbehaglich fühlte. Nicht einmal Steph hatte ich alles gesagt, nur dieselbe Geschichte, die ich der Polizei erzählt hatte. Ich konnte ihr unmöglich mehr erzählen, ohne mit der ganzen Sache herauszurücken, und dazu war ich immer noch nicht in der Lage.
Phoenix erklärte, dass Engel in ihrem Reich Leute dazu zwingen konnten, Dinge zu sagen oder nicht zu sagen. Bei normalen Menschen verstieß das im Allgemeinen gegen die Regeln, aber so wie es aussah, fiel ich nicht mehr in diese Kategorie. Er vermutete, dass das wahrscheinlich der Grund dafür war, weshalb ich es Steph oder meinem Dad nicht erzählen konnte. Offensichtlich war das die Standardprozedur für noch unentschlossene Grigori.
»Warum bist du anders?«, fragte ich Phoenix, als unser Essen kam. Ich erinnerte mich daran, wie er mir einmal gesagt hatte, dass er kein gewöhnlicher Verbannter sei.
»Ich nehme an, ich hatte einfach Glück.« Sein sarkastischer Tonfall klang nicht gerade überzeugend.
Ich schlang die Hände um meine Kaffeetasse und war froh, dass es wenigstens etwas gab, worauf man sich verlassen konnte. »Warum weichst du immer aus, wenn das Gespräch auf dich kommt?«
Er reagierte nicht.
»Du wirst es mir nicht sagen, oder?«
»Habe ich dir nicht bewiesen, dass ich nicht hier bin, um dir etwas anzutun?«, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen. Phoenix trank keinen Kaffee. Anders als ich schien er nicht diese kleinen Rituale zu haben. Alles, was er tat, war immer so anders – und extrem. Er würde das am stärksten schmeckende, süßeste oder ungewöhnlichste Essen bestellen, das er finden konnte. Heute aß er ein Steak-Brötchen mit extra Roter Bete – weil er die Farbe mochte – und dazu saure Gurken und frische Chilis. Fast wünschte ich mir, der Kellner wäre da, der über meine Suppe-Kaffee-Kombi zum Frühstück die Nase gerümpft hatte.
»Ja. Ich glaube schon«, gab ich zu und rümpfte die Nase, als ich zuschaute, wie er sich mit einem Happs eine kleine rote Chili einverleibte.
»Kannst du dich nicht erst einmal damit zufriedengeben?«, fragte er. Ich beobachtete ihn, als die Wirkung der Chili seine Geschmacksnerven erreichte. Fassungslos erkannte ich, dass er nur mit einem winzigen Hochziehen seiner Mundwinkel reagierte.
Ich glaubte nicht, dass ich je wieder eine Beziehung akzeptieren würde, in der es Geheimnisse gab. Nach allem, was ich mit Lincoln erlebt hatte, erschien es mir heuchlerisch, zu akzeptieren, dass Phoenix die Wahrheit über sich selbst geheim hielt. Aber andererseits war es ja nicht so, dass wir uns schon ewig kannten. Ich konnte nicht erwarten, dass er mir alles sofort anvertrauen würde. Es sei denn, ich wäre ebenfalls dazu bereit.
»Erzählt du es mir irgendwann?«,
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