Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
herumzukommandieren. Dieser Mann duldete keinen Widerspruch. Wenn man ihm zuhörte, drängte sich einem das Bild eines kolonialen Plantagenbesitzers oder eines Schiffsreeders auf. Brage-Schmidt galt als exzellenter Kenner Afrikas. Jahrelang war er Konsul verschiedener zentralafrikanischer Staaten gewesen, und mindestens ebenso lange hatte er sich als Geschäftsmann in diesen Ländern nicht eben die beste Reputation erworben. Gerüchte kursierten, er habe in all den Jahren seine Kammerdiener immer nur mit »Boy« angesprochen. Und das war noch das Harmloseste, was man ihm nachsagte.
Für René Eriksen gab es kaum einen Zweifel, dass Brage-Schmidt hinter der Idee für diesen Betrug steckte. Er hatte eine Zeit lang erfolgreich Holz aus Äquatorialafrika importiert und dann laut Teis Snap sein gesamtes Vermögen in der Karrebæk-Bank angelegt. Im Laufe der folgenden Jahre war er zu deren größtem Aktionär aufgestiegen. Insofern war es auch nicht verwunderlich, dass er nun sein Vermögen erbittert verteidigte. René konnte das durchaus nachvollziehen. Aber jetzt ging es nicht mehr nur um Betrug, jetzt schwebte plötzlich über zwei weiteren Männern das Todesurteil. Warum hörte sich René nicht protestieren gegen das, was da vorging?
Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. In Wahrheit verstand er diese graue Eminenz nur allzu gut, da gab es gar nichts schönzureden. Und: Gab es denn eine Alternative?
»Ja«, sagte Brage-Schmidt. »Solche Entscheidungen treffen zu müssen ist hart. Aber denken Sie doch auch mal an all dieArbeitsplätze, die verloren gehen würden, und an all die Kleinanleger, die ihre gesamten Sparguthaben verlieren würden, wenn es uns nicht gelänge, das Ruder herumzureißen. Wir haben auch eine Verantwortung gegenüber unseren Kunden. Natürlich ist es bedauerlich, dass Opfer gebracht werden müssen. Aber ist das nicht immer so? Einige wenige müssen sich für die Masse opfern. Und in ein paar Jahren ist alles wieder im Lot, die Bank konsolidiert, Investitionen werden wieder getätigt, Arbeitsplätze bleiben erhalten, und die Aktionäre haben keine Verluste mehr zu verzeichnen. Und wer, Herr Eriksen, glauben Sie wohl, wird in der Zwischenzeit die Energie aufwenden und kontrollieren, ob die Plantagenwirtschaft der Pygmäen in Dja Fortschritte gemacht hat? Wer wird sich die Mühe machen und überprüfen, ob sich Schulsystem und Gesundheitsversorgung wesentlich verbessert haben, seit das Projekt angestoßen wurde? Wer wäre überhaupt imstande dazu, wenn die, die für das Projekt zuständig waren, nicht mehr am Leben sind? Herr Eriksen, ich bitte Sie.«
Ja, wer außer mir. Dieser Gedanke fuhr René Eriksen wie ein Messer durchs Hirn. Er sah hinüber zu den hohen Sprossenfenstern. Sollte das heißen, dass auch er …?
Nein, ihn würden sie nicht überrumpeln, so viel war sicher. Er wusste, wie er sie drankriegen konnte, und er dachte überhaupt nicht daran, sich von ihnen bedrohen zu lassen. Er holte tief Luft, dann sagte er: »Ich kann nur hoffen, dass ihr wisst, was ihr tut. Und dass ihr es dann schön für euch behaltet, denn ich will nichts weiter darüber wissen.« Nach kurzer Pause fuhr er fort: »Und dann wollen wir hoffen, dass William Stark noch nicht angefangen hat, diese Geschichte von Anfang an zu dokumentieren und seine Aufzeichnungen in einem Bankschließfach zu deponieren, so wie ich es getan habe.«
Er sah Teis Snap an und lauschte angespannt auf das Rauschen aus dem Lautsprecher. Wenn sie schockiert waren, ließen sie es sich zumindest nicht anmerken.
»Okay«, fuhr er fort. »Mag sein, dass es tatsächlich nicht auffallen wird, dass Louis Fons Berichte nicht von ihm selbst erstellt wurden. Aber wie steht es mit William Starks Verschwinden? Das wird Schlagzeilen machen.«
»Ja und?« Die Stimme des Aufsichtsratsvorsitzenden wurde einen Hauch dunkler. »Solange Starks Verschwinden nicht mit uns in Verbindung gebracht werden kann, passiert doch nichts, oder? Wie ich es sehe, reist er nach Afrika, erscheint nicht zu einem Termin, fliegt ohne Erklärung zurück nach Hause und verschwindet dann. Zeugt das nicht von einer gewissen Labilität? Könnte man nicht auf den Gedanken kommen, dass sein Verschwinden selbstverschuldet ist? Ich glaube schon.«
Snap und Eriksen sahen sich an. Brage-Schmidt war mit keinem Wort auf Renés Unterlagen im Bankschließfach eingegangen. Vermutlich hatten er und auch Snap verstanden, dass sie auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen waren.
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