Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
Fingern – auf dieselbe nonchalante Weise, in der ältere Frauen mit einer gewissen Selbstüberschätzung seit jeher das Ritual des Rauchens praktizierten. Nicht die Zigarette wurde zum Mund geführt, sondern der ganze Oberkörper bewegte sich zur Zigarette. Sie nahm einen ewig langen Zug und wandte Carl anschließend, eingehüllt in Nikotinwolken, den Kopf zu.
»Das wird heute nur ein kurzer Besuch, Karla. Ich habe noch einen Termin in der Stadt, in fünfundzwanzig Minuten muss ich wieder los. Aber sag, wie geht es dir?« Er erwartete endlose Klagen über die ungewohnte Umgebung und den Verlust der Möbel, die ihr, wenn man ehrlich war, nie selbst gehört hatten.
»Na ja«, antwortete sie. »Eigentlich sehr gut. Nur meine Scheide ist ein bisschen trocken.«
Carl sah zur Uhr. Immer noch vierzehnhundert lange Sekunden.
30
Marco hatte den größten Teil des Tages in seinem Versteck auf der Baustelle ausgeharrt, den Schutzhelm, den er hatte mitgehen lassen, auf dem Kopf.
Endlich war er seine belastenden Informationen an der richtigen Stelle losgeworden. Und wer weiß, vielleicht hatte dieser Carl Mørck den Zettel in seinem Portemonnaie ja bereits entdeckt und ging den Hinweisen nach?
Hätte es auf der Baustelle nicht von Handwerkern gewimmelt und würden nicht so viele Leute Jagd auf ihn machen, hätte er in aller Ruhe hier im dritten Stock gesessen und die fantastische Aussicht genossen.
Vom Tivoli in seinem Rücken hörte er das Juchzen und Kreischen der Besucher, die sich trotz des schlechten Wetters mit dem Himmelsschiff in schwindelerregende Höhe katapultieren und im Goldenen Turm aus ebensolcher Höhe herabstürzen ließen. Viele von denen, die dort ihren Mut und ihre Grenzen testeten, waren wohl so alt wie er. Aber diese Art von Mutproben brauchte Marco nicht. Der Kampf ums Überleben war Herausforderung genug.
Dabei waren die Mitglieder des Clans vielleicht sogar noch das kleinere Übel, denn die kannte er wenigstens, die konnte er einschätzen. Aber wer waren die anderen? Wer war zum Beispiel der Typ, der hinter der Gardine am Fenster gehockt und ihn mit einem schnellen Telefonanruf verraten hatte? Ganz offensichtlich ließ Zola es sich einiges kosten, Marco aus dem Verkehr zu ziehen und die Bedrohung auszuschalten, die er darstellte. Und falls die Polizei tatsächlich schon in Kregme gewesen war, gab es für ihn, Marco, auch endgültig keine Möglichkeitmehr, bei Zola um Nachsicht zu betteln. Dafür war es nun zu spät, die Würfel waren gefallen – auf seine Initiative hin.
Marco hörte, wie durch die Baustellenzufahrt vom Rathausplatz neue Betonelemente und Stahlträger angeliefert wurden. Es war bestimmt die zwanzigste Fuhre heute. Die beiden stählernen Seitenkonstruktionen des Gebäudes, eine zum H. C. Andersens Boulevard hin und die andere zum Tivoli, waren inzwischen so in die Höhe geschossen, dass man bereits die fünfte Etage in das Stahlskelett einfügte. Deshalb hielt Marco sich in der äußersten Ecke zur Vesterbrogade auf, wo in dieser Woche am wenigsten passierte.
Als der erste Schwung Bauarbeiter nach Hause ging, kroch er wie ein Dachs aus dem Bau und beobachtete, was auf dem Rathausplatz vor sich ging. Der Ausblick auf die Stelle, wo nachher Zolas Fußvolk eingesammelt würde, war perfekt.
Den Polier in der neongelben Weste bemerkte er erst, als dieser ihn fast schon erreicht hatte, denn der Lärm des Krans, der eine Betonstahlmatte über das Gebäude hob, hatte seine Schritte übertönt.
»Hallo, du da! Wie bist du hier reingekommen?« Die Stimme des Mannes hallte durch die ganze Etage. »Sind das deine Sachen am Aufzugsschacht, das Buch und der andere Kram?«
Marco schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe nur meinen Vater begleitet. Entschuldigung, ich weiß, dass ich nicht hier oben sein darf. Ich geh auch sofort wieder. Aber es ist so spannend zuzusehen.«
Der Mann betrachtete Marcos Helm, runzelte die Stirn und nickte schließlich. Vielleicht konnte er sich auch einfach nicht vorstellen, dass einem Jungen wie ihm ein Buch gehörte. »Sag deinem Vater, dass es ein Kündigungsgrund ist, wenn man Familie auf die Baustelle mitbringt. Klar?«
»Ja, mach ich. Entschuldigung.« Auf dem Weg zur Treppe spürte Marco die Augen des Mannes im Rücken. Der darf michhier nicht noch mal sehen, dachte er, während er zwei weiteren Handwerkern, die ihm auf dem Weg nach unten begegneten, freundlich zunickte.
Weil er wusste, dass er vorne an der Baustellenaufsicht nicht vorbeikam, ging er
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