Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
Marcos Puls schneller. Er öffnete die Dose: zwei Goldringe, eine Korallenkette mit passendem Armband und Ohrringen. Zwei Margeriten-Broschen in unterschiedlicher Größe und eine Diskette, beschriftet in Großbuchstaben: ›AN INTERNATIONAL PERSPECTIVE ON PENSION FUNDS: RETIREMENT INCOME SECURITY AND CAPITAL MARKETS‹.
Marco begriff gar nichts. Der Schmuck war wertlos, und was auf der Diskette stand, das waren böhmische Dörfer für ihn.
Tilde brauchte lange, bis sie etwas sagen konnte. »Er hätte sich von allem getrennt, hat Mama gemeint. Aber als es mir einmal sehr schlecht ging und ich überzeugt war, sterben zu müssen, hatte William zu mir gesagt, wenn ich einmal heiraten würde, dann sollte ich denselben Schmuck tragen wie seine Mutter bei ihrer Hochzeit.« Sie schluckte. »Und das hier …« Sie drückte die Diskette fest an sich. »Ich weiß, warum er seine Doktorarbeit nicht abgeschlossen hat. Weil er wegen meiner Krankheit keine Zeit hatte. Und guck mal, er …«
Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Marco wusste nicht so recht, was er tun sollte, also legte er ihr einen Arm um die Schulter und ließ sie weinen.
Als Tilde sich wieder etwas beruhigt hatte, sah sie ihn an. »Ich kann mir vorstellen, dass er es vielleicht doch noch versuchen wollte. Vielleicht hat er seine Arbeit einfach für einen zweiten Anlauf versteckt und den Schmuck für mich.« Dann schüttelte sie den Kopf, wischte sich die Tränen ab und setzte sich auf. »Komm, es nützt ja nichts. Jetzt müssen wir auch den Rest ausgraben.«
Nach zehn Minuten hatten sie vier weitere Plastikdosen geöffnet.
Unter der Platte C4 lag ein Notizbuch, unter C6 ein Stapel Kontoauszüge, unter F6 ein Umschlag mit der Aufschrift ›Mein letzter Wille‹ und unter F7 schließlich ein Aktendeckel, auf dem mit dicker schwarzer Schrift ›Baka-Projekt‹ stand. Die vielen Papiere darin trugen alle den Briefkopf des Ministeriums.
Tilde öffnete das Notizbuch und erkannte sofort Williams Handschrift. Sie überflog die erste Seite und begann, mit den Fingerspitzen ihre Stirn zu massieren.
Marco sah, dass ihre Augen sich schon wieder mit Tränen füllten.
Immer wieder las sie diese erste Seite, und jedes Mal wurde sie etwas blasser.
»Willst du nicht schauen, was auf den anderen Seiten steht?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Was ist denn? Geht’s dir nicht gut?«
Stumm nickte sie.
So saßen sie eine Weile schweigend auf der Terrasse, dann legte sie das Notizbuch zurück in die Plastikbox.
»Es stimmt, was die Polizei gesagt hat: William hat eine Menge Geld unterschlagen, das steht alles da drin.« Sie biss sich auf die Lippe. »Und das hat er meinetwegen getan, das weiß ich. Und jetzt kann ich noch nicht mal mehr mit ihm darüber sprechen, das tut mir so leid.«
Marco wusste genau, wie es ihr ging. Dieses Gefühl kannte er nur zu gut.
»Was ist mit den anderen Sachen?«
Sie nahm die Kontoauszüge, die unter C6 gelegen hatten, blätterte darin herum und legte sie dann seufzend zurück. »Dasselbe. Das sind die Überweisungen, es stimmt also.«
»Das mit der Unterschlagung?«
»Ja. Ich glaube, er hat das Geld genommen, auf das Konto überwiesen und davon dann die Rechnungen für meine Krankenhausaufenthaltebezahlt. Ich kann mich gut an all die Kliniken erinnern und teilweise sogar an die Daten.«
»Dann hat er dich aber wirklich lieb gehabt.«
»Ja.«
Marco sah weg. Ob ihr bewusst war, wie viel Glück sie gehabt hatte?
»Machst du den bitte auf, Marco? Ich glaube, ich kann das nicht.« Sie deutete auf den Umschlag, auf dem ›Mein letzter Wille‹ stand.
Marco nahm das Dokument heraus. Es war auf dem Briefpapier eines Notars verfasst, mit dem Wort ›Testament‹ überschrieben und mit einem roten Stempel als Kopie ausgewiesen.
»Er hat dir und deiner Mutter in dem Testament alles vermacht.«
Tilde schloss die Augen.
Ein bisschen aus Verlegenheit griff Marco nach dem Aktendeckel, der unter der Platte F7 gelegen hatte, und wartete, bis sie sich die Augen mit dem Handrücken abgewischt hatte.
»Weißt du, was das hier ist?«
»Unterlagen aus seinem Büro. An dem Baka-Projekt hat er zuletzt gearbeitet, glaube ich.«
»Warum liegt das hier? Das wird doch wohl kaum so wichtig sein wie alles andere?«
Sie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Vielleicht sollten wir das besser im Ministerium abliefern.«
Da hörten sie ein Auto vor dem Haus halten.
»Das wird meine Mutter sein, aber warum fährt sie nicht in die
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