Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
wenn sie jemandem über den Weg liefen, den sie kannten.
Diese meist flüchtigen Begegnungen hatte Marco inzwischen zu einer Art Spiel für sich gemacht: Er hatte es zur wahren Meisterschaft darin gebracht, einzuschätzen, wie lang – oder kurz – eine Begegnung zwischen Leuten ausfiel. Meist war es ohnehin nur ein schneller Schlagabtausch, in dem man sich gegenseitig versicherte, wie eilig man es gerade hatte – und Marco lachte sich jedes Mal ins Fäustchen, wenn die Zeit, die er maß, sich mit seiner vorherigen Schätzung deckte. Es machte ihm einen unbändigen Spaß, die Menschen zu durchschauen.
Was die Leute gar nicht mochten, war, von irgendwelchen Straßenmusikanten, Obdachlosen, Betrunkenen oder Verrückten aus ihren Gedanken gerissen zu werden. Sie hassten es, wenn jemand ihre Kreise störte. Ihr Blick war nach innen gerichtet – statt auf die bunte Vielfalt um sie herum.
So richtig freundlich und lebendig trat der Däne nur auf, wenn er sich unter seinesgleichen befand. Das war Marco auch früher schon aufgefallen. Jetzt aber empfand er das Gefühl des Nicht-Dazugehörens schmerzlicher als je zuvor.
Es gab Tage, da prallten die vielen Beschimpfungen nicht mehr an ihm ab: »Verpiss dich! Hau ab in das Scheißland, wo du herkommst! Kannst du deinen Baum nicht finden, du Affe?«
An solchen Tagen zog sich Marco völlig in sich zurück. Es waren Kay und Eivind, die ihn dann aus seiner Erstarrung befreiten. Sie brachten ihm bei, es den Menschen in tadellosem Dänisch heimzuzahlen: »Hej, übst du Smalltalk für deineFreunde? Warum machst du das in aller Öffentlichkeit? Hast du kein Zuhause?«
Respekt war etwas, das man sich verdienen musste, das lehrte ihn die Straße. Auf die harte Tour.
Auf diese Weise vergingen die Wochen und Monate, und Marco gewann immer mehr Abstand zu seiner Vergangenheit. Manchmal gestattete er sich sogar so etwas wie Hoffnung auf eine Zukunft, die nicht nur aus planlos aneinandergereihten Tagen bestand. In Eivinds und Kays kleiner Wohnung in Østerbro lernte er während des Winters und der ersten Frühlingsmonate, nach vorn zu schauen und sich auf ein ganz normales Leben vorzubereiten. Er arbeitete eisern daran, sein Dänisch zu verbessern, feilte mit Kays und Eivinds Hilfe an seiner Aussprache, notierte sich neue Wörter und lernte die elementare dänische Grammatik. Wenn er ein Wort falsch verstand oder sein Akzent zu stark war, dann amüsierten sich die beiden und nannten ihn Eliza und sangen »The rain in Spain stays mainly in the plain«. Aber Marco wusste ja, dass sie es gut mit ihm meinten, und lachte mit ihnen.
Von Kay und Eivind lernte Marco nicht nur, Menschen zu vertrauen, sondern auch, Regelmäßigkeit und Routinen wertzuschätzen. Er erkannte, dass sie einen nicht zermürbten – wie es unter Zolas Fuchtel der Fall gewesen war –, sondern einem den Alltag erleichterten. Bald genoss er es geradezu, feste Termine zu haben. Aber vor allem genoss er es, sich als Teil einer »Familie« zu fühlen inmitten von Brokatgardinen und Porzellannippes, von Gesellschaftsspielen und Gelächter.
Und doch war es ein wackeliges Kartenhaus, in dem sich dieses schöne Leben abspielte – das wusste er schon, bevor Eivind eines Abends zu ihm sagte: »Hör mal, Marco. Du lebst illegal in diesem Land, und wir machen uns Sorgen um deine Zukunft. Ohne dänische Papiere wird das hier irgendwann ein abruptes Ende nehmen.«
Als wenn Marco nicht jeden Abend, wenn das Licht gelöscht war, daran dächte. Aber an diesem Abend fasste er einen Vorsatz: Er würde so schnell wie irgend möglich werden wie alle hier im Land, eine Ausbildung machen, einen Job haben und irgendwann vielleicht auch eine Familie. Doch dazu brauchte er eine Aufenthaltserlaubnis – und die würde er ohne Papiere, ohne irgendeinen Nachweis seiner Herkunft niemals kriegen, er war ja nicht naiv, er las schließlich Zeitung.
Nein, es würde nur mit einer neuen Identität funktionieren. Bloß: Wo fand er jemanden, der ihm neue Papiere besorgen konnte? Papiere, die ihren Preis kosten würden, darüber machte er sich keine Illusionen.
Marcos einträglichster Job war das Plakatekleben. Im Winter war es schwer, die alten Papierschichten von den Plakatwänden abzukratzen und den dicken Kleister aufzutragen. Aber als die Knospen aufsprangen und es wärmer wurde, machte es Marco richtig Spaß, überall bunte Veranstaltungshinweise anzubringen.
Er war bei jedem Wetter unterwegs, und er erledigte seine Arbeit so gewissenhaft,
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