Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
dass er bald ganz Østerbro und ein Stück von Hellerup allein versorgte.
Manchmal träumte er davon, selbst einmal zu einer solchen Veranstaltung zu gehen, doch er wusste, das wäre viel zu riskant, denn dort könnte er denen in die Arme laufen, die sicher noch immer nach ihm suchten. Nein, Marco konnte sich nicht einfach unbekümmert im Freien bewegen, er musste ständig auf der Hut sein. Das vergaß er nicht eine Sekunde des Tages.
Doch er versuchte, den Mut nicht zu verlieren. Er wusste, dass er Geduld brauchte: Irgendwann würde sich sein Aussehen so weit verändert haben, dass niemand ihn mehr erkennen würde. Und vielleicht hätte sein Clan bis dahin auch eingesehen, dass er keine Gefahr für sie darstellte.
In der Zwischenzeit würde er sich die Papiere beschaffen, under schwor sich, dass das der letzte illegale Akt seines Lebens sein würde. Er sehnte sich danach, sein Geld auf ehrliche Weise zu verdienen. Und dazu wollte er studieren, das stand für ihn mittlerweile fest. Er würde Medizin studieren und anschließend einen gut bezahlten Job haben. Daher sparte er so viel von seinen Verdiensten wie möglich und nutzte jede freie Minute, um dieser Zukunft den Weg zu bereiten.
In den Bibliotheken der Stadt fühlte Marco sich frei. Frei, an seinem Lebenstraum zu basteln – vor allem aber frei, weil er wusste, dass Zolas Leute diesen Orten fernblieben. Und solange er nur im Lesesaal arbeitete, brauchte er nicht mal einen Ausweis. Eivind und Kay hatten ihm das alles erklärt.
Jeden Tag überflog Marco die Überschriften der Zeitungen. Jeden Tag blätterte er in einem neuen Buch. Das Bibliothekspersonal beobachtete ihn, das spürte er wohl. Aber da er nichts weiter tat, als konzentriert zu lesen und gelegentlich etwas im Internet zu recherchieren, ließ man ihn in Ruhe.
In gut zwei Jahren, wenn er achtzehn war, würde er sich beim Abendgymnasium in Frederiksberg anmelden, um dort die Hochschulreife zu erwerben. Er hatte gelesen, dass sich Frauen auf dem Arbeitsmarkt besonders anstrengen mussten, um angemessene Jobs zu bekommen – und da konnte er nur lachen. Das traf ja wohl auf Menschen mit dunkler Haut, ohne Papiere und formale Bildung gleichermaßen zu.
Er war sich im Klaren darüber, dass er jetzt auf keinen Fall mehr mit dem Gesetz in Konflikt geraten durfte. Deshalb musste er sich auch von Typen fernhalten, die ihn mit Schwarzgeld bezahlten und dabei so unvorsichtig waren, dass sie aufflogen. Auch traf er Vorsichtsmaßnahmen, ehe er sich auf neue Arbeitgeber einließ, denn wer wusste schon, ob ihn nicht irgendjemand eines Tages anzeigte? Ja, Marco musste ständig auf der Hut sein, nicht nur vor den Mitgliedern seines Clans.
Hier in Østerbro sah er nie jemanden von denen, aber das wunderte ihn auch nicht. Zolas Leute bewegten sich im Zentrum,da, wo das meiste Geld zu holen war. Trotzdem durfte er niemals vergessen, dass Zola über unzählige Kontakte in der ganzen Stadt verfügte, über ein riesiges engmaschiges Netz an Leuten, das er jederzeit auswerfen konnte, um noch in der kleinsten Seitenstraße, im äußersten Randbezirk nach potenziellen Komplizen für irgendeinen Deal zu suchen – oder aber nach möglichen Feinden. Nach Feinden, wie Marco jetzt einer war. Die meisten von Zolas Kontaktleuten kamen aus Osteuropa, die waren für Marco zum Glück nicht schwer auszu-machen. Kriminelle Balten, Polen und Russen hatten ihren eigenen Stil.
Mit steigenden Temperaturen wurde es in Østerbro richtig lebendig, in kürzester Zeit veränderte sich das Straßenbild: Die Mädchen trugen kurzärmelige Shirts, die Kinder tobten ausgelassen umher. Marco konnte sich nur an wenige Tage in Italien erinnern, die ihn so mit Freude erfüllt hatten.
Mit der Aluminiumleiter über der Schulter und dem Kleistereimer in der Hand winkte er quer über die Østerbrogade dem Kioskbesitzer zu, der draußen am Schaufenster lehnte und die Sonne genoss wie zu Hause in Karatschi. Dann stellte Marco seine Utensilien hinter dem Denkmal dieses Gunnar Nu Hansen ab, nach dem der Platz benannt war. Dort störten die Sachen niemanden.
Die Litfaßsäule auf dem Platz gehörte zu den schönsten und am besten gelegenen der Stadt, jedenfalls auf Marcos Route. Jemand hatte ihm erzählt, dass es früher überall in der Stadt solche Plakatsäulen gegeben hatte. Aber das war bestimmt schon lange her.
Der Standort war perfekt: Das Park-Café, der Sportplatz, das Kino und die stark frequentierte Østerbrogade spülten Unmengen von
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