Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
Treppenstufen hoch, wohl wissend, dass die da draußen seine Vorliebe kannten, durch Hintertüren in den Garten zu fliehen. Gäbe es einen ersten Stock, würde er auf der Stelle dort hinauf verschwinden, denn das Dach bot sich bei überstürzten Fluchten immer an, das wusste er aus Erfahrung. Doch hier gab es keinen ersten Stock, und das Dach war so flach wie ein Pfannkuchen, dort konnte er sich also nicht verstecken.
Und wenn er um Hilfe schrie? Das Fenster zum Nachbarhaus aufriss und sich die Lunge aus dem Hals brüllte? In der Hoffnung, dass die Nachbarn aus ihren Häusern kämen und Pico, Romeo und den Komplizen durch ihre bloße Präsenz verjagten?
Einen Moment schwankte er. Seine Gedanken überschlugen sich.
Nein, das würde nicht funktionieren. Pico und Romeo würden ihn sich trotzdem schnappen und bewusstlos schlagen. Pico schreckte vor Gewalt nicht zurück, das wusste er.
Er hatte also richtig getippt beim Anblick der aufgeschlitztenPolster: Es waren Zolas Leute gewesen. Und jetzt waren sie wieder da. Aber warum? Wonach zum Teufel suchten sie?
Marco zwang sich, nüchtern zu denken: Er selbst konnte unmöglich der Grund für Picos und Romeos Auftauchen sein. Nein, sie hatten ja gar nicht wissen können, dass er hier war. Sie hatten eindeutig überrascht geklungen, als sie die Glasscherben sahen. Sie wussten nur, dass er irgendwann hier gewesen war. Sie mussten also aus einem anderen Grund gekommen sein. Aber aus welchem?
Fieberhaft dachte er nach und blickte sich dabei um. Hier oben gab es genauso wenig Möglichkeiten, sich zu verstecken wie im Keller. Keine Abseite und keine Einbauschränke. Im Schlafzimmer hatte er nur ein Regalsystem mit Vorhang gesehen.
Wenn sie tatsächlich schon einmal hier gewesen waren, dann wollten sie jetzt wahrscheinlich etwas holen, das sie beim letzten Mal nicht mitgenommen oder gefunden hatten. Vielleicht sogar etwas, das sie angesichts der neuen Situation, in die Marco sie gebracht hatte, noch dringender in die Finger kriegen wollten als zuvor.
Aus dem Keller war ein Knirschen zu hören. Marco hielt die Luft an, lauschte. Einer war also schon im Haus. Es war schwer herauszuhören, was genau dort unten passierte, denn Romeo erteilte lautstark den Befehl, dass der, der vor dem Haus stand, die Eingangstür im Blick behalten sollte.
Den Fluchtweg gab es also auch nicht mehr.
Damit Romeo ihn durchs Fenster nicht sehen konnte, ging Marco in die Knie und kroch auf allen vieren durchs Wohn- und Esszimmer, auf der Suche nach einem Versteck. Fehlanzeige. Blieben also nur die Schlafzimmer. Marco trat auf den Flur und warf einen Blick in die kleinen Räume. Hoffnungslos. Betten und Regale und lauter Nippes. Nichts, wohinein man verschwinden konnte.
Und dann fiel sein Blick auf den Tresor in dem kleinen Büro.
Das war eine Möglichkeit. Denn wenn Zolas Leute etwas mit Sicherheit wussten, dann dass der leer war. Das hatten sie garantiert als Erstes überprüft.
Nein, dort werden sie nicht suchen, versuchte er, sich zu beruhigen, kroch in den Safe und zog die Tür bis auf einen winzigen Spalt zu.
Jetzt war es zu spät für ein anderes Versteck, und Panik stieg in ihm auf. Es gab nur drei Möglichkeiten: Sie fanden ihn nicht, was er natürlich inständig hoffte. Oder sie fanden ihn und schlugen ihn bewusstlos. Oder – und bei diesem Gedanken schlug ihm das Herz bis zum Hals – sie fanden ihn und knallten die Tresortür zu.
Wenn sie die Stahltür verriegelten, würde er qualvoll ersticken. Und man würde ihn erst finden, wenn das Haus einen neuen Besitzer fände. Dann würde man einen toten Jungen finden, den keiner vermisst hatte. Einen Jungen ohne besondere Kennzeichen und ohne Papiere.
Marco presste die Lippen zusammen. Sein Herz hämmerte jetzt so stark, dass sein Atem in der Embryonalhaltung, in der er kauerte, fast nicht nachkam. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren, und im Nu waren seine Finger so feucht, dass es ihm schwerfiel, den winzigen Rand der Tür festzuhalten.
Nun war Romeos Stimme aus dem Wohnzimmer zu hören, er war also durch die Verandatür ins Haus getreten. Und der Kerl an der Haustür war sicher auch schon auf seinem Posten. Nur Pico fehlte, der durchsuchte wahrscheinlich noch den Keller.
Als er schließlich heraufkam, knarrten die Fußbodendielen. Die Räume schienen wie durch Nervenstränge miteinander verbunden. Trat man an einer beliebigen Stelle auf eine Holzdiele, jagten elektrische Impulse bis in die hintersten Winkel des Hauses – bis in den
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