Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
keinen Hinweis auf eine Alarmanlage entdeckte, schlenderte er weiter zur Rückseite des Hauses. Dort fand er ein unvergittertes Kellerfenster, knapp dreißig Zentimeter hoch, mit einem solide in das Mauerwerk eingelassenen Fensterrahmen.
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, denn nun war er in seinem Element. Routiniert ballte er seine Hand zur Faust und klopfte mit dem Ellbogen auf die Fenstermitte, drückte etwas nach, bis auf der Scheibe Spannung lag, und dann schlug er kurz und präzise mit der freien Hand auf die Faust, sodass der Ellbogenknochen wie ein Meißel gegen das Fensterglas drückte. Im Nu zogen sich strahlenförmig Risse über die Scheibe, und das Splittergeräusch war kaum zu hören. Die Scherben ließen sich jetzt Stück für Stück herauszupfen.
Nachdem er sie an der Hausmauer aufgeschichtet hatte, legte er sich auf den Rücken und glitt mit den Beinen voran durch die Fensteröffnung, die für jemanden wie ihn keine Herausforderung darstellte.
Der Keller bestand nur aus einem einzigen Raum, etwa ein Drittel so breit wie das Haus. Gekalkte Wände, abgestandene Luft, hohe Luftfeuchtigkeit. Eine Kombination aus Wäschekeller, Werkstatt und Vorratsraum für Eingewecktes, saure Gurken und so etwas. Es roch nach Waschpulver, und tatsächlichstand da noch ein Paket Omo oben auf der Waschmaschine. Marco drehte die Packung auf den Kopf und stellte dabei fest, dass das Pulver längst verklumpt war. Ja, es stimmte. Hierher kam niemand mehr.
Rasch inspizierte er ein paar Farbeimer und das Werkzeug, trat zur Tür, die in den Garten führte, schloss sie auf und öffnete sie. Das war der erste Notausgang ins Freie.
Dann stieg er die Treppe hoch ins Erdgeschoss, ging zur Verandatür und öffnete auch diese. Das war der zweite Fluchtweg. Erst jetzt sah er sich nach Bewegungsmeldern und Ähnlichem um, das einen Alarm auslösen oder eine Telefonverbindung zu den Nachbarn herstellen konnte. Er horchte, ob schwache Heultöne zu hören waren.
Aber es blieb ruhig. Also machte er sich ans Werk und ging systematisch die Räume durch. Bei einem normalen Einbruch hätte er routinemäßig jeden Gedanken an die Bewohner ausgeblendet. Mitleid zu bekommen mit denen, die man bestahl, war das Schlimmste, was einem passieren konnte, das hatte Zola ihnen immer wieder eingebläut. »Geht einfach davon aus, dass alles euch gehört. Kein Blick auf Fotos, das sind Fremde. Kein Blick auf das Spielzeug in den Kinderzimmern. Denkt einfach an eure kleinen Geschwister.«
Besonders das Letzte war ihm immer schwergefallen.
Aber jetzt war Marco nicht hier, um zu stehlen, er war hier, um sich die Geschichten der Menschen anzueignen, die in diesem Haus gelebt hatten – all die kleinen Dinge, die davon erzählten, wer sie waren.
Er begann mit den Schubladen und dem ganzen Papierkram.
Offensichtlich war William Stark ein ordnungsliebender Mann gewesen, das sah man mit einem Blick in Schränke und Schubladen. Normalerweise herrschte in Schubladen immer Chaos. Mindestens hundert Mal hatte Marco schon in fremde Schubladen geschaut, aber die hier waren anders. William Stark war kein Typ, der alles hortete.
Auch an den Wänden oder auf den Regalen gab es nichts, was an Starks Vergangenheit, an seine Kindheit oder Jugend erinnerte. Keine Fotos des jungen William als Konfirmand oder als Abiturient zwischen seinen Eltern, keine Kiste mit alten Weihnachtskarten. Stattdessen: handgeschriebene Steuerunterlagen, Versicherungspolicen in Aktenordnern, eine Schale mit fremdländischen Münzen, in kleinen Plastiktüten nach Herkunftsland sortiert. Kopien von Reisebelegen, Bündel von Boardingpässen und Notizen über verschiedene Hotels an den unterschiedlichsten Orten, alphabetisch sortiert, alles von brüchigen Gummibändern zusammengehalten.
Einem solchen Mann war Marco noch nie begegnet.
Mädchen- und Frauensachen fand er in den angrenzenden Zimmern. In ihnen roch es auch anders. Die Wände im Zimmer der Tochter waren hellgelb gestrichen, die Sachen dort interessierten sie heute bestimmt nicht mehr. Das Aquarium und der Vogelkäfig waren leer, die Zeichenutensilien aufgeräumt, und die Poster von den Boygroups an den Wänden hätte sie garantiert längst gegen andere ausgetauscht. Das Zimmer der Mutter wirkte viel zeitloser. Regale voller Bücher, oben auf den Schränken reihenweise Handtaschen und Sommerhüte. In einer Ecke standen diverse Stiefelpaare, und an einem Haken neben dem Spiegel hingen bunte Tücher.
Marco stutzte. Komisch, das
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